Blue
Farbe war um ihre Tai l len geschnürt. Darüber trugen sie weiße Schürzen , um die Seide zu schützen. Die Tradition wollte es, dass ein Toter von den zwei nächsten Angehörigen gewaschen und mit einem Öl aus Myrrhe, Weihrauch und Salbei gesalbt wird. Während des Einölens musste der Körper achtmal umschritten we r den. Beim Kopf beginnend im Uhrzeigersinn. Das soll te de n Lauf der Zeit symbolisieren und die Zahl Acht bezog sich auf den Neuanfang.
Während des Rituals durfte kein Wort gesprochen werden. Die Stille war den Erinnerungen an den Verstorbenen gewidmet. Nur, Blue hatte keine Erinnerungen an Leander und Tom war nur hier, weil ihre Mutter unau f findbar war und er deshalb ihren Platz eingenommen hatte.
Nachdem sie die Waschung und Salbung beendet hatten, kleideten sie i h ren Vater in die gleiche Robe. Seine war jedoch weiß, für die Unendlichkeit stehend , in die Leander eingegangen war. Als er aufgebahrt war, entledigten sie sich der hässlichen weißen Schürzen .
Shadow, Irbis, Dark und Umbro trugen Leander auf einer Bahre in den Zeremonienraum. Die Blicke von Orion, Gabriel , Nero, David und Lucy waren auf sie gerichtet. Die Schattenlords stellten die Totenbahre auf ein passendes Gestell mit vier Rädern und traten von Leander weg.
Dem Ritual weiter folgend kamen alle Anwesenden einzeln zu Leander. Sie schnitten sich eine Haarsträhne ab und benetzten sie mit einem Tropfen ihres Blutes. Leander sollte einen Teil von ihnen mit auf die ewige Reise nehmen. Die Haarsträhnen wurden in eine Holzschale zu seinen Fü ß en g e legt. Zuletzt kam Blue an die Reihe. Mechanisch griff sie nach der Schere, die ihr unter die Nase gehalten wurde , und schnitt sich ein paar Haare ab. Dann zog sie die Schneide über die Spitze ihres Daumens. Wie in Trance beobac h tete sie , wie sich das austretende Blut in kleinen Tropfen sammelte. Jemand räusperte sich und holte sie damit in die Realität zurück. Schnell drückte sie den blutigen Daumen auf das Bündel Haare und legte es in die Schale. Bevor sie sich jedoch abwandte, konnte sie dem Drang nicht widerstehen, Leander ein letztes Mal die Hand an die Wange zu legen und ihm die Stirn zu küssen. Als sie seine kalte, starre Haut berührte, brach die ganze Erschöpfung und Trauer über ihr zusammen. Die Knie gaben unter ihr nach und am Ende fand sie sich in Toms Armen wieder.
Es war eine anstrengende Zeit gewesen. Das Totenritual sah vor, dass sie zwei Tage im Zeremonienraum am Boden knieten und Leanders Leichnam in Gedanken durch die Kremation begleiteten. Nach diesen zwei Tagen stand Blue auf der Terrasse ihrer Dachwohnung und blickte in den winterl i chen Sonnenuntergang. Die kalte Jahreszeit neigte sich dem Ende zu und die Tage wurden bereits spürbar länger. Die Urne mit Leanders Asche ruhte in ihren Armen und wartete darauf, dass das Ritual zu Ende gebracht wurde.
Insgeheim genoss sie die Einsamkeit ihres großen Balkons. Tom lag in der Badewanne und die Schattenlords waren w er weiß wo. Irgendwie vermisste sie das einsiedlerische Leben, das sie früher geführt hatte. Mit diesem G e danken ging Blue auf das Geländer zu und öffnete die Urne. Sie ließ den Wind hineinfahren und die Asche davontragen. Alles bis auf einen kleinen Rest, denn mit diesem hatte sie andere Pläne. In Gedanken verabschiedete sie sich von Leander. Ihrem Vater, den sie nur ein paar Minuten kennen durfte, von dem sie aber insgeheim immer gewusst hatte, dass er da gewesen war.
Als Blue schließlich wieder reinging, war sie komplett durchgefroren. Glücklicherweise war das Badezimmer frei und sie flüchtete sich direkt unter die heiße Dusche. Tom lag schon im Bett , als sie mit geröteter Haut das Zimmer betrat , und befand sich bereits in anderen Gefilden. Wie es den Anschein hatte , hatte er auf sie warten wollen, war aber eingeschlafen. Leise ging sie ums Bett herum , machte die Nacht tischlampe aus und schmiegte sich an ihn.
Ignaz Meier
Ignaz Meiers Kanzlei lag an der Fraumünsterstraße , s o wie Leander es gesagt hatte. Nachdem Blue sich ein paar Tage von den Ereignissen im Labor e r holt und den nötigen Mut aufbr ingen konn te, hatte sie ihn um einen Termin gebet en . Ohne nachzudenken , hatte sie der Sekretärin ihren richtigen Namen genannt. Die se war kurz ins Stocken geraten und verband Blue umgehend mit ihrem Chef. Ignaz Meier hatte eine volle, tiefe Stimme. Er sagte ihr, dass sie noch am selben Tag vorbeikommen sollte.
Mit pochendem Herzen
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