Bluescreen
geht, ob ein Kuss beim ersten Date moralisch vertretbar sei; die eigene schüchterne Unbeholfenheit hinter pornografischen Wunschvorstellungen zu verstecken (»Hast du schon einmal einen flotten Dreier gehabt?« – »Nein, das ist mehr so was wie ein Ziel von mir.«) – genau das ist, die Kameras beweisen es, in Amerika der Stand der Dinge in Sachen (Selbst-)Darstellung. Im Fernsehen versuchen alle, jemand anderes zu spielen, doch dabei fühlen sie zugleich weiterhin die Fesseln des Prosaischen, des Ungenügenden, ja der ganz banalen Höflichkeit, so dass Konformität zum Chaos gerät und Imitation zur Idiosynkrasie.
»Voyeurismus« war noch nie das richtige Wort dafür, was es bedeutet, sich diese Shows anzusehen. Man identifiziert sich ein Stück weit mit den Teilnehmern und empfindet in der jeweiligen Situation sogar so etwas wie Anteilnahme. »Wie würde es mir wohl ergehen, wenn ich von der Polizei angehalten oder bei einem Blind Date verkuppelt würde?« Vor allem – und das ist der wesentlich wichtigere Punkt, den es in Bezug auf das Reality- TV hervorzuheben gilt – haben wir es dabei immer mit Urteilen zu tun. Wir werden nie wissen, was unsere Landsleute tun, solange wir ihnen nicht bei ihren Handlungen zukucken können. Doch sobald wir sie gesehen haben, werden wir sie beurteilen und nacherzählen. In dieser Hinsicht ist das Reality- TV eng verwandt mit der Fernsehhalbwelt inszenierter Gerichtssendungen wie The People’s Court , Divorce Court , Judge Hatchett und Judge Judy . Anspruchsvolle Kritiker hassen auch diese Shows, zumindest behaupten sie es. Ich glaube, das ist ein Fehler. Die ganzen Reality- TV -Formate – sowie ein sehr großer Teil dessen, was tagsüber im Fernsehen läuft – bieten uns über alle Klassengrenzen hinweg einen Einblick in die Realität, weil sie es uns ermöglichen, unser Urteilsvermögen zu erproben und zu schärfen. Die »Freunde« in Friends waren eine ideologische Gruppierung, sie machten in einer Sitcom über Geschwisterliebe Propaganda für die öde Klasse der Reichen. Die Serie sah nicht vor, dass sie sich für ihre Idiotien rechtfertigen mussten, geschweige denn, dass diesen Freunden einmal interessante Detailfragen gestellt wurden: Woher kommt eigentlich das Geld für eure Miete oder eure Friseurrechnungen? Wie würden sie sich wohl in der wirklichen Welt »dort draußen« verhalten? Wenn Judge Judy doch nur ein einziges Mal über die Friends zu Gericht säße! Wenn die Cops doch nur ein einziges Mal ihre Tür eintreten und sie an die Wand pressen würden! »Monica, du saublödes abgemagertes Schreckgespenst, iss gefälligst mal ein Sandwich!« – »Ross, du aufgeblasener Paläontologe, lies ein Buch! Du Leichenhallenwiderling !« Im Ernst: Die Gerichtssendungen haben auch etwas mit Rachsucht zu tun: Sie versammeln all jene linkischen, schummelnden, ausweichenden, selbstzentrierten Menschen, denen man auch im Alltag über den Weg läuft, und führen sie als Angeklagte in den Gerichtssaal, um sie dort, da auf ihre Dummheit und Eitelkeit nun einmal Verlass ist, mal so richtig anzuschreien.
Das ist die eine Möglichkeit, mit seinen Mitbürgern ins Reine zu kommen. Viele Reality- TV -Shows vermitteln jedoch eine relativ große Offenheit, was das Urteilen betrifft(obwohl das Beurteilen selbst hier die einzige Konstante darstellt), und das hat auch mit einer Art von situativer Identität zwischen dem Betrachter und den Objekten vor der Kamera zu tun. (Fast jeder von uns hatte schon einmal ein Date, so gut wie alle, ob reich oder arm, haben beim Autofahren Angst vor der Polizei und rufen bei der nächsten Wache an, wenn sie sich bedroht fühlen.) Im Reality- TV werden immer Urteile über ein »anderes Ich« gefällt, ganz egal, wie viel Recht man hat, seine schwachköpfigen Mitbürger zurechtzuweisen und zu verhöhnen. Heutzutage lässt sich auf jeder Ebene unserer Gesellschaft eine regelrechte Gier feststellen, unablässig irgendetwas zu beurteilen. Das Resultat sind oft Urteile im Schnellverfahren, bei denen es nicht um den Wunsch nach Wahrheit geht, sondern um eine brutale Spielart des Dezisionismus, bei dem man am Ende lieber falschläge, als dass man sich einer Wertung enthielte. Hier kommt nicht der Wille zum Ausdruck, etwas sorgfältig abzuwägen, vielmehr soll einfach überhaupt irgendein Urteil gefällt werden. Im Bereich der Politik hat genau diese Mentalität die Katastrophen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart geprägt. Ihre weicheren,
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