Bluescreen
laufen lassen – um unser wirkliches, reales Leben aufzuzeichnen.
Was diesen ewigen Traum angeht, haben wir weder gänzlich falsch noch völlig richtig geträumt. Das utopische Versprechen der fünfhundert Kanäle landete im Papierkorb. Die Techno-Utopisten verlagerten ihre Fantasien auf das Internet. So viel ist sicher: Das Kabelfernsehen hat uns rein gar nichts gebracht, was auch nur annähernd dem Paradies gleichkäme, auf das wir gehofft hatten. Bekommen haben wir stattdessen Reality- TV .
Jede Beurteilung des Reality- TV ist zunächst einmal abhängig von dem Begriff, den wir uns vom Fernsehen machen; und außerdem von unserer Vorstellung von einer politischen Gemeinschaft.
Und hier bekommen wir es gleich mit einer weitverbreiteten Fehleinschätzung zu tun: Da die edelsten Formen des künstlerischen Strebens fiktionaler Art sind (der Roman, der Film, die Malerei, Theaterstücke), sollte man doch eigentlich annehmen, dass die Genres der fiktionalen Unterhaltung, die Sitcom und die einstündige Fernsehserie die wichtigsten, die ureigenen Produkte des Fernsehens darstellen. Ich glaube, das ist falsch – und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen. Den fiktionalen Gattungen kommt im Rahmen eines kommerziellen Mediums, dessen »Programm« mit der Zeit zu jenem Speck geworden ist, mit dem man die besten Happen vom Steak umwickelt – die neunzigsekündigen Werbeclips –, eine ganz andere Bedeutung zu. Fiction meint etwas ganz anderes im Rahmen eines Mediums, das wir einschalten, nur um mal zu sehen, »was gerade im Fernsehen läuft«, und nicht unbedingt, weil wir nach einem bestimmtenEinzelwerk suchen; wenn man also vor allem vorhat, einfach nur so fernzusehen und nicht etwa eine ganz bestimmte Serie zu schauen und danach den Fernseher abzuschalten.
Seit seinen Anfängen in den frühen fünfziger Jahren wirft man dem Fernsehen vor, einen bereits ausgeprägten Individualismus weiter anzuspornen, die Konsumenten immer noch mehr zum Narren zu halten, Passivität und Stubenhockerei zu befördern und die sensationslüsterne Brot-und-Spiele-Masche einer tyrannischen Massenkultur zu komplettieren. Das wären die wichtigsten Kritikpunkte, glaube ich. Wann immer jedoch die zahllosen Fernsehgegner und Nörgler versucht haben, die im Innern der Idiotenkiste flimmernden Jämmerlichkeiten zu kategorisieren, begannen sie bald darauf, einige eher marginale Formate (anspruchsvolle Fernsehspiele zum Beispiel), die ihnen akzeptabel erschienen, in Schutz zu nehmen, während sie über wirklich Besonderes und sehr viel Wichtigeres, das ihren Visionen nicht entsprach, auch weiterhin spotteten (Spielshows, Lokalnachrichten und heutzutage Reality- TV ).
Wenn wir uns allerdings dem eigentlich interessanten Problem zuwenden wollen, dann sollten wir uns auf die dramatischen Genres konzentrieren, also auf Fernsehfilme und Serien. Skepsis gegenüber der Tendenz, dem Theater und den Erzählungen breiteren Raum in einer Republik einzuräumen, hat im Westen eine lange Tradition. In ihrer modernen Variante wurde diese Skepsis zwanzig Jahre vor der Amerikanischen Revolution formuliert. In seinem Brief an D’Alembert über das Schauspiel betont Rousseau, eine Republik (in seinem Fall das Genf der Zeit um 1758) handele richtig, wenn sie das Theater aus dem öffentlichen Leben heraushalte. Für Rousseau ist eine Republik eine politische Gemeinschaft, in der alle Personen gleich sind und souverän, was also auch in unserer Gegenwart der Fall sein sollte, in der amerikanischen Republik. Für sich alleine ist der Bürger allerdings nicht souverän, er wird dies erst und ausschließlich, wenn er an einer Gemeinschaft der Gleichen teilnimmt. Würde man dem Theater in dieser Situation zu viel Macht einräumen, bestünde die Gefahr, dass die wahrhaften, einer republikanischen Gemeinschaft entsprechenden Formen der Unterhaltung an den Rand gedrängt würden. Letztere wiederum müssen in der Selbstachtung und der freien Betätigung des Urteilsvermögens im Alltag verankert sein, in Faktoren also, welche die Bindungen zwischen den Bürgern stärken. (Man muss sich dabei in Erinnerung rufen, wie sehr Rousseau das Theater im Paris des Ancien Régime liebte: »Die Wahrheit ist, daß Racine mich bezaubert und daß ich niemals freiwillig eine Aufführung eines Stückes von Molière versäumt habe.« 1 In der ohnehin vollkommen verdorbenen politischen Ordnung des Feudalismus bzw. Absolutismus konnte das Theater also keinen großen Schaden mehr anrichten, es
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