Bluescreen
kulturellen Wirkungen sehen wir hingegen in den therapeutischen Talkshows. Man denke nur an das Geschniefe und die mütterliche Nasenputzerei in Sendungen wie Dr. Phil , in denen die Experten niemals an einen Punkt kommen, an dem selbst sie nicht mehr weiterwissen. Unter keinen Umständen würde so ein Experte sagen: »Nein, Ihre Situation ist viel zu verfahren, als dass ich Ihnen noch irgendetwas raten könnte. Ich habe ganz ähnliche Probleme, also schalten Sie gefälligst Ihren eigenen Kopf ein.« Das richtig billige und rohe Reality- TV hingegen bietet uns die Gelegenheit,über Menschen zu urteilen, die genau so sind wie wir selbst, über Menschen, die exakt dasselbe tun wie wir. Ja, es ist billig, es ist amoralisch, es tut nicht einmal so, als ginge es um irgendwelche höheren Werte, es wird stark zensiert, es handelt sich um ein mit Schuld behaftetes Vergnügen – und doch kann es lehrreicher, wahrhaftiger und amerikanischer sein als fast alles, was wir sonst zu sehen bekommen. Es passt insofern nur allzu gut zu unserer großartigen Republik.
Zumindest war das der Fall, bis wir feststellten, was die reichen Sendernetzwerke aus Reality- TV machen konnten. Sie stürzten sich darauf wie Dinosaurier in einen Binnensee und machten ganz schön Wellen. Dank ihrer größeren Budgets und weil sie an die Stelle isolierter Begegnungen ein kontinuierliches Serienkonzept setzten, schufen sie den zweiten Idealtypus der gefilmten Wirklichkeit: die Shows, in deren Mittelpunkt eine Gruppe als Mikrokosmos steht.
Diese Mikrokosmos-Shows waren Unterfangen in einem wesentlich größeren Maßstab, finanziert wurden sie von Fox, MTV , NBC , ABC , CBS oder den Warner Brothers (die anderen Reality- TV -Sendungen waren entweder billig produziert und dann über Sendefrequenzen mit niedriger Reichweite bzw. im Rahmen des Programmaustauschs finanziell schlecht ausgestatteten Kabelsendern vorgesetzt worden; Cops wiederum ist ein Relikt aus der Aufbauphase von Fox und wurde dann beibehalten). Die MTV -Sendung The Real World , für die man eine Gruppe von Teenagern zusammen mit einigen Kameras in ein Haus steckte, stellt das früheste und noch am wenigsten ausgereifte Beispiel dar. Der Name Real World beinhaltete eine doppelte Pointe: Zum einen sah man Nicht-Schauspielern bei ihren alltäglichen Interaktionen zu (was zunächst ziemlich faszinierend war); zum anderen war die Teilnahme an der Sendung für viele der Kids ihr erster Ausflug in die wirkliche Welt außerhalb ihrer Familie (was spätestens nach dem x-ten, von Heimweh motivierten Anruf langweilig wurde). MTV hatte sich zum Ziel gesetzt, eine »Generation« zu erfinden, nicht eine Gesellschaft, denn MTV ist schließlich der aggressivste Verfechter eines Konzepts von Jugend, die ganz pauschal das Erwachsenenleben insgesamt ersetzen soll.
In der Folgezeit verwandelten die großen Sendernetzwerke die frühen, ereignisbasierten Dating-Shows in großangelegte Serien, in deren Verlauf von ursprünglich dreißig Verehrerinnen oder Verehrern so lange eine oder einer abgewählt wurden, bis nur noch die auserwählte Braut oder der auserwählte Bräutigam übrig war. Mit Big Brother wurde auch aus der Mikrokosmos-Show über eine Gruppe ein Wettbewerb. Einen noch dramatischeren Triumph dieses Genres stellte Survivor dar, dem mit etwas zeitlichem Abstand The Amazing Race folgte.Die neuen Formate, bei denen die Fernsehleute den Mikrokosmos und den Wettbewerb mischten, griffen dabei auf ganz ähnliche Formen der gesellschaftlichen Entdeckungen zurück wie der englische Roman in seiner Frühphase: Survivor auf die auf einer einsamen Insel angesiedelte Robinsonade; The Amazing Race auf die imperialistischen Abenteuerromane und »Am Ende der Welt gibt es Drachen!«-Reiseberichte; und die sentimentalen Verführungen von The Bachelor erinnern an Samuel Richardsons Roman Clarissa : Ähnlich wie die Heldin dieses Buchs werden diewillig kreischenden Kandidatinnen zu einem herrschaftlichen Anwesen chauffiert, um dort ihre Herzen in die Hände eines modernen Lovelace zu legen.
Das zentrale Motiv des Romans Robinson Crusoe , in dem der Held in der Isolation einer verlassenen Insel aus dem Nichts eine Gesellschaft aufbaut, spielte bei Survivor allerdings keine Rolle. Und bei The Amazing Race geht es – anders als bei Swift – nicht um die typischen Erfahrungen eines Engländers in der Fremde, um Zufallsbegegnungen, wie sie in Schelmenromanen vorkommen, oder um übertriebene Reiseberichte, wie
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