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Bluescreen

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Titel: Bluescreen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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von den Urteilen, die man selbst darüber trifft, macht diese Schule zu einer wirklich anästhetischen Ideologie. Es geht um den Willen, die eigenen Erfahrungen zu kontrollieren und ihre Auswirkungen auf ein Minimum zu reduzieren. Erfahrungen sollen keine Rolle spielen – abgesehen von der Erfahrung, die man macht, wenn man alle Erfahrungen diszipliniert beherrscht. Das stoische Ideal schlechthin ist die Apathie , es gilt, alle Leidenschaften und Gefühle hinter sich zu lassen; der Stoiker macht sich jedoch aus genau dem Grund frei von den Sorgen der anderen, weil er dann sorgenfrei das tun kann, was alle anderen ohnehin auch tun. Auf diese Weise wurde der Stoizismus zu einer militanten Lehre, weil die Stoiker in einer Welt weiterleben mussten, die sie doch eigentlich verleugneten. »Bemühe dich daher«, lehrt Epiktet, »jedem unangenehmen Eindruck sofort mit den Worten zu begegnen: ›Du bist nur ein Eindruck, und ganz und gar nicht das, was du zu sein scheinst.‹« 10
    Das bedeutet nicht nur, dass es gilt, allen Sinneseindrücken zu misstrauen; es gilt darüber hinaus, sie niemals zu ästhetisieren oder mit Sinn aufzuladen. Es handelt sich schließlich um nichts anderes als das Zusammentreffen zufälliger Ereignisse, die man unter keinen Umständen mit einer Aura versehen oder in ein Narrativ einbetten darf, an das man sich erinnert oder mit dem man sich emotional auseinandersetzt. Aus diesem Grund lehnte Epiktet alle Tragödien und Epen, in denen es um starke Gefühle ging, strikt ab. Was für ein Mensch lässt sich schon von Leidenschaft und Erfahrung übers Ohr hauen, und sagt dabei: »Wehe mir«?
    »Denn was sind Tragödien anderes als in dieser poetischen Form dargestellte Leidensgeschichten von Menschen, die die äußeren Dinge bewundert haben? Wenn nämlich irgendjemand durch eine Täuschung [d. h. hier eine fiktive Erzählung] dazu gebracht würde zu lernen, dass uns keines der äußeren und unserer Entscheidung unzugänglichen Dinge betrifft, dann würde ich zwar diese Täuschung hinnehmen, durch die ich glücklich und ungestört leben könnte [. . .]« 11
    Doch dann – und das ist typisch für Epiktet – verlässt er die Frage der Tragödie und anderer Dramen, und weist seine Schüler an, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und diesen zu folgen: »[I]hr aber werdet selbst sehen, wofür ihr euch entscheiden wollt.«
    Der Epikureismus und der Stoizismus überlebten, ja sie waren sogar für einige Jahrhunderte die vorherrschende Lehre, während der Platonismus und der Aristotelismusvorübergehend an Bedeutung einbüßten. Heute jedoch liegt die Erinnerung an diese anästhetischen Lehren unter einer dicken Schicht Staub begraben. Wir ignorieren sie weitgehend, und ihre großen Vordenker reihen sich ein unter jene Hunderte vergessener Philosophen, die zwischen der Antike und der Moderne stehen.
     
     
     
    In meinem früheren Essay habe ich einige Methoden erörtert, mit deren Hilfe wir besonders wichtige Erfahrungen sammeln: Drogen und Alkohol, Sex und Reisen. Ich wies darauf hin, dass diese Methoden einerseits unzuverlässig sind und dass sie andererseits selbst zu unserer existenziellen Unzufriedenheit beitragen, da sie in uns das Bedürfnis wecken, permanent weiteren Erfahrungen nachzujagen.
    Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugender erscheint mir der Gedanke, dass die Wege, mittels derer wir heute unabhängig von den wirklich anästhetischen Ideologien – also etwa den Lebensphilosophien der Epikureer und der Stoiker – Erfahrungen suchen, selbst einen anästhetischen Zug aufweisen; etwas, das dafür sorgt, dass diese Aktivitäten zugleich der Mäßigung als auch dem Sammeln und der Intensivierung von Erfahrungen dienen. Anders ausgedrückt: Moderne Lösungen für das Problem der Unerträglichkeit der Erfahrung haben die Tendenz umzukippen; sie oszillieren zwischen dem Schutz vor den allzu schmerzhaften Erfahrungen, die spätmoderne Ökonomien für uns bereithalten, und Anpassungen an eben diese Ökonomien, Anpassungen allerdings, die immer weitere Lebensbereiche in ihren Sog gelangen lassen.
    Nehmen wir Drogen und Alkohol. Beide haben ganzoffensichtlich auch einen anästhetischen Effekt. Seinen Kummer im Alkohol zu ertränken, gilt ganz allgemein als einfachste und billigste Methode, der Erfahrung zu entfliehen. Whiskey ist nach wie vor ein ausgezeichnetes Schmerzmittel, auch wenn er nicht länger zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wird. Man beginnt zu trinken, weil man

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