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BLUFF!

BLUFF!

Titel: BLUFF! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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irrealen Fernsehwelt rechtfertigen, das Fernsehen muss sich rechtfertigen, ob es die Menschen am wirklichen Leben hindert oder ob es ihnen wenigstens Durchblicke und Ausblicke zum eigentlichen Leben ermöglicht. Nicht Fernsehereignisse sind es, die ein Leben wirklich prägen, sondern die existenziellen Erlebnisse. Sie sind es, die diesem einmaligen Leben eines einmaligen Menschen in einer einmaligen Zeit seinen Wert, seinen besonderen Geschmack und seine Faszination verleihen. Eine Fernsehdarbietung kann das nie. Die schleichende Machtübernahme des Fernsehens und mancher anderer Medien über unser wirkliches Leben prägt unsere Gesellschaft mehr, als wir merken, und, wenn wir es dann doch merken, mehr, als uns lieb sein kann.
    Der Philosoph Martin Buber hat gesagt, dass die erste Erfahrung im Leben nicht das Ich ist, sondern die Begegnung mit einem Du. In den Augen dieses anderen Menschen erkennen wir, wer wir selbst sind. Doch die Augen des Fernsehens sind tot. Niemand, der uns im Fernsehen gegenübertritt, nimmt uns wirklich wahr. Wenn Buber recht hat, dann würde jemand, der nur noch Fernsehbekanntschaften hat, mit der Zeit ganz vergessen, wer er selbst wirklich ist, weil ihn niemand mehr wirklich anschaut.
     
    Müssen wir uns also vom Fernsehen befreien? Wäre es ein heroischer Akt der Emanzipation in letzter Minute, all diese Medien, all diese Produzenten des Scheins in einer beispiellosen Kampagne vom Erdboden zu vertilgen? Natürlich nicht. Medien sind Vermittler zwischen uns und der Welt. Und ohne Medien könnten wir gar nicht leben. Spätestens seit Erfindung der Schrift und im Grunde schon bei der ersten Überbringung einer mündlichen Nachricht haben wir es mit Medien zu tun. Pauschale Medienschelte ist daher genau so unsinnig, wie ein Protest gegen Lesen und Schreiben.
    Aber machen Sie doch mal ein Experiment! Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie müssten morgen mit absoluter Sicherheit sterben. – Würden Sie dann wirklich heute Fernsehen schauen? Würden Sie nicht sofort die Kiste ausmachen und sich fragen, was Sie Sinnvolles mit der kostbaren unwiederholbaren Zeit anstellen könnten, die Ihnen da noch bleibt? Vielleicht sprechen Sie noch mit den Menschen, die Ihnen besonders wichtig sind, hören Musik, die Sie immer schon ergriffen hat, beten, wenn Sie religiös sind, vielleicht sogar in der Kirche nebenan. Einen Fernsehgottesdienst werden Sie wahrscheinlich nicht einschalten.
    Das, was uns an diesem einen Tag zum entschiedeneren Leben antreiben würde, das Bewusstsein, dass jeder Moment unwiederholbar und kostbar ist, gilt aber, wenn wir es genau bedenken, in Wahrheit für jeden Moment unseres Lebens, weil ja jedem von uns der Tod sicher ist. Doch das Fernsehen fälscht die Zeit. Es suggeriert uns eine unendliche Zeit, und die scheint realer als die wirkliche Zeit, die für jeden von uns bekanntlich endlich ist. Irgendwie gehen wir selbstverständlich davon aus, dass es am Tag nach unserem Tod natürlich abends pünktlich um zwanzig Uhr wieder die Tagesschau geben wird. Dabei ist unser Tod für uns das eigentliche Ereignis, die Tagesschau ist nur ein Kunstprodukt. Die Tagesschau am Tag nach meinem Tod existiert für mich nicht. Sie ist in Wirklichkeit weiter von mir weg als die entfernteste Galaxie im Weltall.
     
    Disneyfiguren sterben nie. Das ist das Beruhigende an ihnen. Und weil man das genau weiß, genießt man die rabiaten Verfolgungsjagden mit heiterem Amüsement. Denn man kann sicher sein, dass Goofy nach einem Sturz aus schwindelnder Höhe zwar kurzzeitig etwas benebelt ist, aber natürlich wieder aufsteht und nun seinerseits Micky Maus derart auf den Schädel haut, dass so etwas niemand gesund überlebt hätte, außer eben Micky Maus. Der Ernst des Lebens kommt in der Kunstwelt der Unterhaltung aus guten Gründen nicht wirklich vor.
    Nur ganz selten bricht die reale Welt plötzlich ins Fernsehen ein. Am 4. Dezember 2010 erlitt Sebastian Koch bei Thomas Gottschalks Live-Sendung »Wetten dass …?« völlig unerwartet einen fast tödlichen Unfall. Thomas Gottschalk brach die Sendung sofort ab, war auch in der Folgezeit durch dieses existenzielle Ereignis sichtlich persönlich erschüttert, besuchte den wahrscheinlich lebenslang Gelähmten und entschied sich gegen den Rat vieler »Profis« dagegen, die Sendung weiter zu moderieren. Eine höchst erfolgreiche »Kult«-Sendung nicht weiterzumachen war tatsächlich professioneller Wahnsinn, sie weiter zu moderieren, wäre menschlicher

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