BLUFF!
Wahnsinn gewesen. Es ist ein gutes Zeichen, dass manche Menschen, die in der künstlichen Welt des Fernsehens eine Rolle spielen, sich bei solchen Gelegenheiten daran erinnern lassen, dass sie keine Kunstprodukte, sondern wirkliche Menschen sind.
In seinem Film »The Purple Rose of Kairo« schildert Woody Allen auf höchst unterhaltsame Weise, wie plötzlich eine Filmfigur, der Abenteurer Baxter, buchstäblich aus dem Film in den Kinosaal hinein aussteigt und sich in die Kellnerin Cecilia verliebt. Daraufhin bemüht sich verwirrenderweise auch der »echte« Schauspieler, Gil Shepherd, um die Liebe von Cecilia, die sich schließlich für diese echte Variante entscheidet, so dass die Filmfigur wieder in die Leinwand zurück entschwindet. Hier weiß man am Ende nicht mehr, welche Welt eigentlich gefälscht ist und ob es überhaupt eine wahre Welt gibt.
Das gekonnte Spiel mit Scheinwelten in der Scheinwelt eines Films kann besonders unheimlich sein. Hitchcock hat diese Kunst meisterhaft beherrscht. Um eine kriminelle Fälschung der Welt geht es auch in dem Klassiker »Der dritte Mann«, in dem die Inszenierung eines Todes, der gar keiner ist, am Ende ein Todesopfer fordert. Das Spannende solcher Filme ist gerade das Hereingezogenwerden in dieses Spiel mit scheinbar wahren und scheinbar falschen Welten. Und dass diese Spannung nicht nachlässt, wenn die Filmwelt ohne jeden Zweifel eine Fälschung ist, zeigt der große Erfolg von Science-Fiction-Filmen. In diesen phantastisch ausgedachten Welten ist überhaupt nichts echt, oft sind sogar die handelnden Personen keine Schauspieler, sondern am Reißbrett entstandene Kunstprodukte.
Man hat behauptet, dass der Konsum von Science-Fiction-Material bei manchen jungen Menschen die jedem Menschen eigene Sehnsucht nach einem Jenseits so sehr befriedige, dass sie sich deswegen für Religion gar nicht mehr interessierten. Was sind schon göttliche Wunder, wenn man Tag für Tag mal eben einen ganzen Planeten über den Jordan gehen lässt. Science-Fiction-Filme ermöglichen die zeitweilige Flucht aus einer mühevollen Gegenwart in eine phantastische Zukunft. Doch was man da zu sehen bekommt, ist zumeist ein kaltes Jenseits und keine wirkliche Hoffnung, sind siegreiche Roboter und keine lebendigen Menschen, alles in allem ein künstlich fabriziertes buntes Plastikprodukt für dunkle Winterabende, aus dem nichts folgt. Dennoch gehen die Zuschauer, die solche Filme schätzen, dabei gefühlsmäßig genauso mit, wie dazumal das Publikum bei einem Molière-Stück.
b) Der eingebildete Kranke stirbt
Freilich können solche Filme niemals etwas bieten, das sich bei einer Theateraufführung ereignen kann: den plötzlichen Einbruch der existenziellen Realität ins künstliche Theater. Als am 17. Februar 1673 der wohl berühmteste französische Komödiendichter, Jean-Baptiste Molière, bei einem seiner erfolgreichsten Stücke, »Der eingebildete Kranke«, noch einmal selbst auf der Bühne stand und die Hauptrolle spielte, da versagten ihm plötzlich die Kräfte, und er starb, der Dichter, der Schauspieler, der Mensch, auf der Bühne. Das Spiel war aus und kurz darauf das Leben auch. »Se non è vero, è ben trovato« sagen die Italiener, wenn es nicht wahr ist, dann ist es gut erfunden. Schlagartig war Molières Publikum kein Publikum mehr, sondern es waren Mitmenschen, die dem Sterben eines der Ihren beiwohnten, und die Bühne war keine Bühne mehr, auf der vorgeschriebene Rollen gespielt wurden, sondern das Sterbezimmer eines einmaligen Menschen. Jeder Mensch hat nur ein Sterbezimmer.
Es kann passieren, dass der Wechsel zwischen der falschen Welt der Bühne und der Realität dem Publikum erst Jahre später zu Bewusstsein kommt. Als Marilyn Monroe zur Feier des fünfundvierzigsten Geburtstags von John F. Kennedy in einem fleischfarbenen Hauch von Kleid ihr legendäres »Happy Birthday, Mister President« ins Mikrophon hauchte, war den Teilnehmern der Veranstaltung nicht klar, was erst Jahrzehnte später allgemein bekannt wurde, dass nämlich der sexuell offenbar unersättliche US -Präsident in staatsmännischer Pose da mutmaßlich eine höchstpersönliche Liebeserklärung seiner ziemlich zeitweiligen Geliebten entgegengenommen hatte. Dass hier zwei Menschen je auf ihre Weise aus ihrer Rolle gefallen waren, hatte wohl zumindest für Marilyn Monroe durchaus tragische Konsequenzen. Sie nahm sich wenige Monate nach diesem letzten großen öffentlichen Auftritt das Leben.
Das Spiel
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