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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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Kofferträger reichte das Gepäck durch die Waggontür, wo es ein Helfer entgegennahm und durch den engen Gang zum Abteil trug.
    Der Vater und Reni waren ausgestiegen, um den hohen Gast höflich zu begrüßen. Frau Doktor Miegel trug ihr Haar zurückgekämmt, es war grau durchzogen und leicht gewellt, und ihre Hand war, als Reni sie berührte, überraschend warm. Der Lärm des Bahnsteigs irritierte sie sichtlich.
    »Nu stell dir mal vor«, rief die Dichterin. »Renate war der Name, der mir als Kind viel mehr jefiel als Agnes oder Agchen oder Acha, wie wir damals in Königsberg sachten.« Ihr Akzent war ungewohnt und ulkig.
    Es war ein bisschen kühl. Der Vater bot Frau Miegel den Vortritt, und Reni folgte beiden bis zu dem zwar ungeheizten, aber immerhin nicht zugigen Abteil. Reni lief ihrem Vater den ganzen Morgen ziemlich kopflos hinterher. Eine Stimme in ihr sagte: Es wird ernst, jetzt geht es los, es ist so weit. Aber auch: Was kommt nun auf mich zu? Sie stellte sich die Szene vor, den Führer, wie sie vor ihm knickste –
und dann vor Aufregung kein ordentliches Wort herausbrachte.
    Die Dame zog ihren Mantel aus, der Vater hängte ihn an einen der Garderobenhaken. Sie nahmen Platz.
    »Dein Vater hat mir erzählt, welches Ziel und welchen Zweck eure Reise hat. Ich kann mir vorstellen, dass du außerordentlich stolz bist, für eine solch ehrenvolle Aufgabe ausjewählt worden zu sein. Der Führer ist sehr menschlich, du wirst ihn möijen.«
    Reni war erstaunt, dass sich die berühmte Dichterin zuerst mit ihr beschäftigte, bevor sie das Gespräch mit dem Vater begann.
    »Ich wär an deiner Stelle furchtbar aufjewühlt. Als Schriftstellerin kann man es nich vermeiden, immer wieder in der Öffentlichkeit zu stehen. Aber ich muss beichten, dass ich lieber in meinen vier Wänden meine eigene und einzige Zuhörerin bin.« Sie lächelte. »Mein Gottchen, wenn ich an dies Olympiastadion denke. Dort ist ja die janze Welt versammelt und das macht dich nich nervös?«, fragte Frau Miegel.
    »Doch, sehr«, antwortete Reni ehrlich. »Aber die Aufregung darf ja kein Hindernis sein.«
    Die Dichterin blickte sie anerkennend an. »Ich sehe schon, ich kann noch von dir lernen, Renatchen. So gescheit war ich in deinem Alter nicht.«
    Draußen begannen die Leute zu winken. Der Zug setzte sich kaum spürbar in Bewegung. Dampf wehte vorbei und löste sich auf. Die Lokomotive fauchte rhythmisch, allmäh – lich schneller werdend. Reni liebte jeden Augenblick. Es war das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie mit der Eisenbahn fuhr, und die Erwartung in der Dunkelheit des frühen Morgens
in Fulda war beinah noch erregender gewesen als der Gedanke an Berlin.
    Sie trug ein schönes hellblaues und sehr mädchenhaftes Kleid. Aber es war nichts, verglichen mit dem Kleid im Koffer, das sie bei der Begegnung tragen würde und das der Vater ihr geschenkt hatte. Ein weißes Trachtendirndl mit gehäkelten Trägern und einer hübschen grünen Schürze. Das Haarnest war für heute aufgelöst, die beiden Zöpfe hingen frei herab. Es war ein herrliches Gefühl und zog längst nicht so an den Haarwurzeln wie sonst.
    »Jedes Mal wenn ich Eisenbahn fahre, fallen mir frühere Reisen ein«, sagte Frau Doktor Miegel und faltete die Hände. Sie konnte Hochdeutsch sprechen, wenn sie wollte. »In der Tat bin ich viel gereist. Paris, Bristol, Rom. Das war zum Teil noch vor dem Krieg. In deinem Alter, Renate, lebte ich auch eine Weile in einem Mädchenpensionat in Weimar. Oh, wenn ich daran zurückdenke …« Sie schaute aus dem Fenster. Der Bahnhof war verschwunden, Häuser, Höfe, Felder zogen vorüber. Das Schlagen der Räder auf den Schienen zwang die Dame, lauter zu sprechen als zuvor. »Damals lebten in Weimar noch immer ein paar alte Menschen, die als Kinder den Geheimrat Goethe persönlich gekannt hatten. Ich habe dort meine allerersten Verse geschrieben, weißt du …«
    Hier und jetzt einer leibhaftigen Dichterin gegenüberzusitzen, war ein besonderes Gefühl – und im Grunde auch ein Vorschein dessen, was sie in ein paar Stunden erleben würde und eigentlich noch immer nicht für möglich hielt. Reni fand den Gedanken faszinierend, dass die Hände dieser Dame ganze Bücher geschrieben hatten. Dass es die Hände eines Menschen waren, den viele andere kannten, ohne dass Frau Doktor Miegel ihrerseits jemals die Gelegenheit erhalten
würde, auch nur einen Bruchteil ihrer Leser persönlich zu erleben.
    »Ich glaube«, fuhr die Dame fort, »mein

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