Blumen für den Führer
Junge, schlaf dich mal richtig aus.«
Waltraut ging zu dem Jungen. Als er sie ansah, sagte sie: »Den du getötet hast, der hat sich am Tag davor an einem der Mädchen vergangen. Hast du verstanden?«
Jockel schwieg.
»Mir wollte er es auch nicht glauben, dieser Schlingel«, sagte Korff. »Er fühlt sich schuldig.« Dann holte er von irgendwo zwei Wolldecken hervor.
»Das Mädel heißt Monika Otten und ist vierzehn Jahre alt«, erklärte Waltraut. »Sie hat es ihrer Freundin gebeichtet. Die Pensionatsleitung tut so, als wäre nichts passiert.« Sie sah Korff an. »Ich hatte Kiank im Verdacht.«
»Hausmeister Kiank ist ein Dämlack«, stellte Korff fest. »Der fährt regelmäßig nach Abtsroda und besucht dort eine Frau, die ihn verehrt. Gott weiß, warum.«
Jockel legte sich auf die Pritsche. Waltraut merkte, wie erschöpft er war. Sie legte die Decken über ihn, er schloss sofort die Augen.
»Ich hätte wegrennen können«, sagte er leise.
»Dieser Hannes hätte auch weglaufen können«, schlug Korff vor. »Aber so ist unsere Zeit nun mal. Man riecht es überall …«
Jockel schlug die Augen auf.
»Morgens ist die Luft noch gut«, erzählte Korff. »Wenn es zu dämmern anfängt, merkt man noch nicht viel. Dann geht die Sonne auf, man sieht die ersten Leute auf der Straße, hört die ersten Autos brummen, und kaum hat der erste Polizist die Bügelfalte seiner Uniform zerknickt, dann geht es aber los.«
»Was geht dann los?« Jockel hatte wieder große Augen.
»Dann ändert sich die Luft und es riecht überall nach Rattenkütteln. Hast du das noch nicht bemerkt? Bis Mittag stinkt es überall nach Rattendreck.«
Jockel musste lachen. »Das ist die Jauche auf den Höfen.«
»Das sind die Ratten in den Häusern«, versetzte Korff.
Waltraut hatte sich auf den Stuhl am Fenster gesetzt und sah in den Hof hinunter.
Eine junge Mutter war aus dem gegenüberliegenden Haus gekommen und hantierte mit ihrem Kleinkind, das in Decken eingewickelt in einem Bollerwagen saß – und plötzlich zu
ihr, Waltraut, hochschaute. Sie fuhr erschreckt zurück – und wusste nicht, warum.
»Es stinkt nach Rattendreck«, erklärte Korff mit seiner schönen, tiefen, weichen Stimme. »Die Sonne steigt, Junge, und der Gestank wird immer schlimmer. Ich muss dann jedes Mal auf mein Motorrad, ein bisschen raus, verstehst du? … Im Beiwagen, das ist wie Fliegen, oder?«
»Klar doch«, sagte Jockel. Nun wieder mit geschlossenen Augen. Seine Stimme verriet, dass er nah daran war einzuschlafen.
Nach einer Weile fragte Waltraut leise: »Was tun wir hier, Herr Korff?«
Er hatte auf dem zweiten Stuhl Platz genommen. Jockel atmete regelmäßig. Von draußen drang das Schlagen der Räder eines Fuhrwerks durch das Fenster.
Korff sagte: »Der Junge bleibt erst mal hier. Was nützt es, wenn wir den Behörden erzählen, dass der Schlömer-Knecht Hannes ein Verbrecher war? Wir allesamt sind schlechte Zeugen, fürchte ich. Ich werde ihn vielleicht nach Norden mitnehmen. Sie müssen von hier aus leider für sich selbst sorgen, Fräulein Knesebeck.«
»Gibt es eine Pension?«
»Der Reichsadler im Mühlenwinkel. Das ist in der Nähe.«
Waltraut dankte ihm. Das Pferdefuhrwerk begann erneut zu lärmen und verließ den Hof. Man hörte Rufe und einen grellen Pfiff.
»Als ich vor einiger Zeit durch einen Zufall in Ulmengrund Ihren Namen hörte«, sagte Korff in die Geräusche hinein, »habe ich sofort an einen Kameraden denken müssen, den ich während des Kriegs kannte. Unteroffizier Knesebeck auf U64, das war ein Minenleger, der das Mittelmeer befuhr. Genau wie wir.«
Waltraut war auf der Stelle alarmiert. Sie fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
»Ehrlich gesagt rede ich nicht gerne über die Kriegszeit«, fuhr Korff fort. »Ich bin bald sechzig Jahre alt und fühle mich wie siebzig. Ich könnte niemals in einem geschlossenen Automobil fahren. Schmeißen Sie so ein Ding in die Fulda und Sie haben ein U-Boot. Ich brauche diesen offenen Raum um mich seit damals.« Er legte die Rechte auf sein Herz. »Da bleibt mir sonst die Luft weg und plumps.«
»Lothar?«, fragte Waltraut. »Lothar Knesebeck?« Es war, als klänge ihre eigene Stimme fremd.
»Lothar Knesebeck«, bestätigte er. »Fast dreißig Stunden in der Pumpenkammer. Das hält keiner aus.«
Waltraut fühlte ihre Augen brennen. Sie biss die Zähne aufeinander. Wie ein tapferer U-Boot-Offizier.
Korff knetete die Hände. »Wir haben ein paarmal in Pola und später in
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