Blumenfresser
auch ein gescheiterter Mensch eine Wahl hat. Unter hundert Bäumen ist derjenige unserer, dessen Ast stark genug für unseren Tod ist, jedoch nicht stark genug, unseren Körper lange zu tragen, derjenige mithin, der schließlich nachgibt, und dann liegen wir auf der kühlen Erde, mit heraushängenden Gedärmen, umkränzt von den Silberlingen für den Verrat. Wundervoll! Für so ein malerisches Bild, erklärte Kigl, lohnt es sich, Opfer zu bringen. Doch kaum für eines, wo man an eine schäbige Gartenmauer gestellt und von jungenMännern mit zitternden Fingern wie ein Hund erschossen wird. Wie leicht ist es, Freiheit, Revolution, Humanismus, Menschlichkeit, Moral zu verkünden! Moral?! Gefasel, Kindermärchen! Von den Moralisten stellt sich schließlich heraus, dass sie Ungeheuer sind, anstatt schöne Formen zu schaffen, spicken sie das Leben mit unmenschlichen Gesetzen. Nicht Moralist muss man sein, Stil muss man haben! Stil ist nichts anderes, als das Volumen des Inhalts auszuweiten, all dessen, was du bist beziehungsweise, was du sein könntest! Guter und richtiger Stil führt die ganze Welt in Versuchung. Wir werden geboren, wir leben, essen und zeugen, und eines Tages wird Erde auf uns geschippt, das ist alles. Doch die Sünde hat der Schöpfung zugleich Stil und Lebendigkeit verliehen − wie der Kreuzestod der Liebe und die Schönheit des Vergessens der Erinnerung.
Er, Kigl, war es, der seine unbesonnenen Freunde vor Verhaftung und Gefängnis bewahrte! Er war es, der sie vor sich selbst schützte, vor ihrer geistigen Unzulänglichkeit, vor den Deformationen ihres Charakters, während die Unbedarften, die nationalfarbene Schleifen um ihre Herzen banden und mit Tränen in den Augen »Ungarn« flüsterten, ihm sicherlich ins Gesicht spucken und ihn mit Verachtung strafen würden, wenn sie eines Tages erfahren hätten, dass er sich regelmäßig mit dem Herrn aus Wien traf.
Der Herr aus Wien, der ausgezeichnet Ungarisch sprach und sich als angenehmer Gesprächspartner erwies, schätzte die Bedeutung des Stils ebenfalls hoch, er rauchte erlesene Zigarren, trug elegante Anzüge und drohte nie, obwohl er das offensichtlich hätte tun können, selten bat er um mehr, als er vermöge der Berichte bekam. Zuweilen kam er auf ein erzähltes Kapitel oder Detail zurück, brummte nachdenklich, und Kigl, der hinter dieser Liebenswürdigkeit die Kälte der Kerkerzelle spürte, heuchelte dann Naivität. Der Herr aus Wien war verzweifelt, ach, lieber Freund, das ist wenig, flüsterte er und schüttelte den Kopf, doch seine Augen blitzten schalkhaft, als wolle er ihm bedeuten, dass er den Scherz verstehe. Kigl wusste sehr gut, dassjede harmlose Frage eine raffinierte Falle und jede höfliche Bitte immer auch gleich eine Drohung war. Mit diesen theatralischen Elementen wäre er noch fertig geworden, er war auch ein Schauspieler − und nicht irgendeiner! Doch der Herr aus Wien verfügte über ein Mittel, mit dem er, Kigl, ganz und gar nicht zu Rande kam: Das war die Stille, das beklemmende Terrain des Schweigens. Es kam vor, dass sein Gegenüber nichts sagte, sein unbewegtes Gesicht badete im Licht, er fragte nichts, sondern betrachtete seine Fingernägel oder spielte mit einem Zahnstocher. Dieses achtlose Verhalten verunsicherte Kigl, bis schließlich auch er schwieg. Einmal saßen sie eine ganze Stunde lang so da, und als der Herr aus Wien endlich anhob, lieber Kigl, jetzt erzählen Sie mir von den Verbindungen Imre Schöns, berichtete der Redakteur alles, was er wusste, zitternd, aus der wundervollen selbstkonstruierten Rolle fallend, unbeholfen und stillos.
Ede Kigl war eine Bohnenstange, er mochte es, wenn man Angst vor ihm hatte. Er mochte es, wenn ein Kellner oder ein selbstgefälliger Kaffeehausbesitzer sich vor ihm verneigte. Das Fenster hatte er bereits geschlossen, minutenlang hatte er sich nicht gerührt, er spürte den Luftzug, der durch die Ritzen des Zimmers kam, und erschauerte. Ein kalter Wind peitschte durch die Straße, schnitt den Passanten ins Gesicht, zerrte an schlecht angenagelten Schildern, ließ Zunftzeichen knarren. Kigls Fingerspitze verirrte sich in die Erde der Kletterpflanze, die auf dem Tisch stand. Er hatte keine Ahnung, was für eine Pflanze da auf seinem Tisch darbte. Die Erde war trocken, die Blume dürstete, doch die Kanne stand in der Ecke. Ihm kam der Gedanke, am Abend Frau Koroknai aufzusuchen, die Witwe mit der breiten Taille, deren Mann städtischer Beamter gewesen war. Vor einigen Monaten
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