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Blumenfresser

Blumenfresser

Titel: Blumenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: László Darvasi
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angefleht hätte. Die Ungarn dünkten sich noch in der Trostlosigkeit des Gefängnisses als Auserwählte, wie ihnen in den knapp zwei Jahren des Aufstandes auch Kossuth eingeflüstert hatte. Im Allgemeinen waren sie besser ausgebildet als die anderen, sie hatten als Intellektuelle der zweiten oder dritten Linie gedient und ihre Laufbahn als Wissenschaftler, Jurist oder hochqualifizierter Lehrer verlassen, um sich dem rasch rekrutierten Machtapparat des revolutionären Ungarn anzuschließen. Die Überlegenheit der Auserwählten war ihre Triebfeder, und sie bildeten sogar innerhalb der eigenen Nation Kasten, denn die Gesellschaft der Griechisch-Katholischen, der Lutheraner, der Reformierten und der Katholiken war eine jeweils andere, und diese Gruppierungen pflegten miteinander nur selten und reserviert Umgang, ehrlich gesagt sahen sie noch mehr aufeinander herab als auf die Österreicher, die Tschechen oder die Polen. Nach kaum einem Jahr glichen dann auch sie den anderen, waren der Raub ihrer fixen Ideen, waren langsam und unausstehlich geworden, sie denunzierten einander, gerieten sich wegen Nichtigkeiten in die Haare, und Imre konnte feststellen, dass gerade die katholischen Ungarn am häufigsten Verrat begingen und dass besonders die Protestanten ihren Kameraden aus dem Weg gingen.
    Sie lebten zu viert in einem Zimmer, vier gestandene Männer,auf Jahre zusammengesperrt, tagtäglich zusammengehörend, allmorgendlich gemeinsam aufstehend, abends sich immer in gleicher Weise verabschiedend, und diese Situation brachte Gefahren mit sich wie die Gewohnheit vieler anderer, halbjährlich ihre Kameraden, ihre Zimmer zu wechseln und sich dann am ersten Tag zu zerstreiten, es hallte im Korridor, und die Wärter liefen rasselnd an den Ort des Gebrülls. Sie hatten den Entschluss gefasst, zu viert beieinander auszuhalten und jeglichen Zwist unter sich zu bereinigen. Einer von ihnen, ursprünglich Lehrer, war Richter eines Notgerichts in Siebenbürgen geworden, der Älteste war ein Major mit schneeweißem Haar und Bart, er ging viel auf und ab und redete überhaupt nichts, und es gab unter ihnen einen reformierten Priester aus Debrecen, der Feldgeistlicher gewesen war und im Freiheitskampf zwei Geschwister verloren hatte.
    Eines Tages fragten sie Imre, warum er hier war.
    Der Richter sprach ihn darauf an, auch der Priester erhob sich und erwartete stehend die Antwort. Sie wussten nichts von ihm, er redete selten, bat selten um etwas, doch wenn es nötig war, half er. Die Augen des stummen Majors glänzten. Man erzählte sich, er habe, bevor er sich den Ulanen ergab, sein Pferd erstochen und von dessen Blut getrunken.
    Ich glaube, wegen eines Grashalms, sagte Imre schließlich.
    Es regnete.
    Das Wasser trommelte auf den Dächern, die Wächter draußen wurden durchnässt, eine traurige Dachrinne sprudelte schnarrend das Wasser hinab.
    Nur wegen eines Grashalms, wiederholte Imre.
    Sie dachten, der Kummer und die Prüfungen hätten seinen Verstand getrübt, und fragten nicht mehr.
    Mein kleiner Sohn ist gestorben, sagte der Richter an einem Tag im Spätherbst. Imre dachte unwillkürlich an den kleinen Miklós und lächelte. Dann wandte er sich voll Scham seinem Tisch zu. Jeder hatte einen solchen Tisch, es waren kleine Dinger aus Spanplatten, man stellte Bücher und Blumentöpfe daraufund legte Geheimfächer an, in denen Federn und Tintenfässer versteckt wurden. In der Nacht wanderte der Richter lange im Zimmer herum, sie ließen ihn gewähren, dann war wochenlang kaum ein Wort aus ihm herauszubringen, er trauerte lange, schluchzte immer wieder auf, in seinem fleischigen Gesicht verschmierten sich die Tränen. Sie konnten ihm nicht helfen, vielleicht wollten sie es auch gar nicht, ihn in Ruhe zu lassen war alles, was sie tun konnten, sie sehnten sich genauso nach Trost.
    Den ersten Brief bekam Imre nach einem halben Jahr, Klara schrieb deutsch, in knappen Sätzen unterrichtete sie ihn von den Problemen, vom Geldmangel daheim, aus den vorsichtigen Zeilen las er heraus, dass sie behelligt wurden. Klara schrieb vom Regen, von der Dürre, von der Erde und den wechselnden Farben des Himmels, von den Bauarbeiten in der Stadt und vom Verschwinden Somnakajs. In kurzen Absätzen berichtete sie über ihr Kind, es wuchs heran, ein hübscher, intelligenter Junge, es ging ihm gut, Peter erwähnte sie mit keinem Wort. Auch von Wurzelmama und ihren Gefährten schrieb sie nichts, genausowenig davon, dass sie Grasmusik hörte. Hörte sie wirklich

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