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Blumenfresser

Blumenfresser

Titel: Blumenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: László Darvasi
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keine? Zeigte der Bursche sich ihr nicht?
    Klaras auf feinem Papier geschriebene Briefe waren Teil der Zeit, die nicht vergehen konnte. Es gab kein Heute und kein Morgen. Die verschiedenen Einheiten der Zeit, die Minuten und die Stunden, die Tage und die Monate hatten keine Verbindung zueinander, jeder Augenblick führte ein Sonderleben. Der Augenblick passte nicht mit der Minute zusammen, die Stunde nicht mit dem Tag und der Monat nicht mit dem Jahr, und diese Teile der Zeit fügten ihnen wie zerbrochene, zersplitterte Tongefäße fortwährend Wunden zu. Jeder Augenblick glomm einzeln und verlosch dann für sich, aus dem einen ergab sich nicht der folgende, und wenn Imre innewurde, dass ein Jahr seiner Gefangenschaft um war, spürte er das Gewicht und die Ausdehnung der davongekrochenen Jahre nicht, er spürte keine Erleichterung, dass entsprechend weniger Zeit vor ihm lag, es war nicht besser geworden, warum auch, wenn nun mal nichtihm gehörte, was vergangen war, und auch das Kommende, das voraussehbar und doch unübersehbar vor ihm lag, nichts mit ihm zu tun hatte. Das Vergehen der Zeit konnte man zählen, aber erleben oder erfahren konnte man es nicht. Haare, Bart und Nägel waren gewachsen, man musste sie schneiden. Sie wurden geschnitten. Die Hose war gerissen, sie wurde genäht. Der Tisch begann zu wackeln, sie hämmerten sein Bein zurecht. An einem Morgen war der Gefängnishof von Schnee bedeckt, er wurde zu Haufen zusammengekehrt, am nächsten blühten der kleine Mandelbaum und der schiefe Birnbaum, die sich beim Hofeingang krümmten. Sie hatten einen Rüschenrock durch den Burghof huschen sehen. Eine Frau war hier gewesen?! War es gestern geschehen? Oder vor zwei Monaten? Unmöglich mitzubekommen, wie ein halbes Jahr verstreichen konnte, wie aus dem Wolken scheuchenden, windigen Frühling wieder ein düsterer Winter geworden war. Sie erinnerten sich, was in diesem halben Jahr geschehen war, doch selbst ihre eigenen Erfahrungen, dass sie sich tagelang im Fieber herumgewälzt hatten, von Trübsinn oder Zahnschmerz gequält worden waren, dass sie eines Abends ohne Grund in einen Taumel gerieten und beim Wein, der aus der Stadt hereingeschmuggelt worden war, bis zum Morgen gesungen hatten, selbst das hatte nichts mit ihnen zu tun. Ihr Leben verstrich ohne sie.
    An einem Wintermorgen begann auch der alte Major zu reden, der sonst nur alle halbe Jahre etwas murmelte.
    Sie haben gesagt, wegen eines Grashalms?
    Es wurde still, Imre ließ das Buch sinken.
    Ja sicher, wegen eines Grashalms.
    Sagen Sie das denen, wies der Major mit der Stirn nach oben, und es war nicht misszuverstehen, wen er meinte.
    Sicher, auch ihnen sage ich das.
    Sie müssen schon verzeihen, aber Sie sind ein großer Hornochse, mein Freund, knurrte der Major.
    Imre sah dem alten Soldaten ins zerfurchte Gesicht.
    Für Sie ist es leicht, Herr Major, sagte er leise.
    Absolut nicht, mein Freund, ein Echo gibt es auch hier drin, der Alte klopfte sich auf die Brust.
    Die häufigste Krankheit war die Melancholie, die langsam, aber sicher ihr Stehvermögen aushöhlte. Starke, stattliche Männer fielen innerhalb weniger Jahre zusammen, um dann schlurfend, mit tropfender Nase zum Aufseher zu hasten, wenn der nach ihnen rief. Sie vier genossen zusammen mit einigen Ungarn Vergünstigungen, sie mussten keine manuelle Arbeit verrichten, keine Schanzarbeit richtete sie zugrunde, und sie bekamen auch nicht in den feuchtkalten Kasematten Gicht und Schwindsucht. Nicht ihr Körper war krank, sondern ihre Seele. Ihre Augen waren außerstande, sich zu schließen, und suchten das Dunkel zu durchdringen, und die unglücklichen Körper wurden von den harmlosesten Krankheiten überwältigt. Den einen Tag hustete einer ihrer Gefährten nur, ein kräftiger, ernsthafter Mann, er spürte ein Stechen in der Brust und klagte über Müdigkeit, am nächsten Morgen versuchten sie ihn vergeblich wachzurütteln. Einem begann plötzlich die Nase zu bluten und hörte auch am dritten Tag nicht damit auf. Es gab Cholerafälle, weil einer der Wärter die Krankheit aus der Stadt mitgebracht hatte. Eine Geschwulst wuchs am Hals und erstickte den Betroffenen innerhalb eines Monats. Imre zitterte, es könnte zwischen Gefängnismauern, fern von daheim ein Ende mit ihm haben. Viele vernachlässigten sich und ließen im Speisesaal, in der Kapelle und im Korridor muffigen Körpergeruch zurück. In den Köpfen herrschte eine Welt irrer Gedanken, die sich mit religiösem Wahn paarten. Auch

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