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Blumenfresser

Blumenfresser

Titel: Blumenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: László Darvasi
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ein ungarischer Adeliger habe den Kaiser ins Herz gestochen und auf diese Weise für alle getöteten Ungarn Rache genommen. Der Kaiser habe die Ungarn vor seinem Tod um Verzeihung gebeten und seinen Attentäter begnadigt. Dann erfuhren sie, dasstatsächlich ein Attentat stattgefunden hatte, der Kaiser jedoch bei bester Gesundheit war, man hatte einen Schneiderlehrling ergriffen, dessen Hinrichtung in Kürze bevorstand.
    Dass die Gefängnistore sich vor der ihnen auferlegten Zeit öffnen würden, war ihre hartnäckigste Neuigkeit, der beharrlichste Tratsch und blinde Alarm. Das sich ständig ändernde und korrigierte Datum machte wieder und wieder in den Gefängniszellen die Runde, wurde auf dem Hof, während des Essens, beim Holzhacken und Wassertragen geflüstert, man hörte es im Dampf des Waschraumes und im Fettgeruch der Küche. Einer von ihnen hatte die ministerielle Verordnung, geschmückt vom kaiserlichen Stempel, in der Gefängnisschreibstube gesehen, eindeutig stehe darauf, und das konnte ihr Kamerad beschwören, dass sie bald freikämen, das Schriftstück habe den Tag, ja sogar die Stunde genannt, die Mehrheit würde noch vor dem Mittagsläuten entlassen, und der Überbringer der Nachricht beteuerte beim Leben seiner Familie, seiner Kinder, dass er nicht lüge und nicht phantasiere. Dieser ständig enttäuschte Wunsch nach Freiheit und die immer wieder auflebende Hoffnung darauf war für sie die wichtigste Neuigkeit, die ihnen die Freiheit mit dem Verstreichen der Zeit keineswegs näher brachte, sondern im Gegenteil, je mehr sie sich nach ihr sehnten, um so ferner erschien sie. Sie glaubten einander alles, sie glaubten das Absurde und schmückten es noch aus, haspelnd und ohne Überzeugung flüsterten sie, dass sie nächste Woche freigelassen würden. Es wird eine Amnestie geben, weil der Kaiser heiratet, weil ihm ein Kind geboren wird, weil die englische Regierung Wien dazu zwingt, weil die Sonne scheint, weil es regnet, weil es Schnee geben wird.
    Dieser Kleinadelige aus Westungarn, ein dünner, sehniger Mann namens Markovits, war mit Sicherheit ein Spitzel. Er durfte regelmäßig die Burg verlassen, konnte nach Belieben in der Stadt herumgehen und auch einkaufen, er schmuggelte unter seinem Umhang Schreibgerät und Zeitungen ins Gefängnis, die dann nach einigen Tagen unter großem Gebrüll und Drohungen konfisziert wurden. Nach kurzer Zeit wurde Markovitserneut hinausgelassen, zuvor sammelte er die Bestellungen ein, auf so einfache Weise ließ sich erfahren, wer ein geheimes Tagebuch in seiner Zelle verbarg. Deshalb baten ihn schließlich diejenigen Häftlinge um eine Feder, die gar nicht schrieben. Alle drei Monate durfte man einen Brief nach Hause schicken. Ungarische Sätze wurden von der Zensur zurückgewiesen, nur deutsche Texte wurden geduldet. Imre störte das nicht, er half auch anderen, schrieb, wie er es nannte, Auftragsbriefe, die er mit sich wiederholenden Wendungen füllte, es geht mir gut, du fehlst mir, haltet durch, bittet Gott, seid fröhlich, duldet. Eine Zeitlang schrieb Imre nur in der Zukunft, als gäbe es keine Gegenwart. Morgen wird es regnen, morgen wird es heiß, morgen gehen wir zum Fluss baden. Klara war immer reserviert, sie schrieb nie, dass er ihr fehlte oder dass es ihr ohne ihn schlechtgehe. Imre wusste, dass sie ihn nicht bestrafen wollte, sie war zu mehr einfach nicht fähig. Manchmal wechselte der Brief in die dritte Person Einzahl. Sie erzählte von ihrem Kind, das gesund war, spielte und träumte. Manchmal gab Herr Schütz ihr die Sätze ein, zeitweilig musste er diktieren, weil er vorübergehend erblindet war, sein Augenleiden war wieder aufgetreten, scherzen konnte er jedoch schon. Wie gut, dass Imre sich ausruhen könne! Eine solche Heilbehandlung im Ausland würde auch ihm gut bekommen, gestern habe er zum Beispiel Blähungen kurieren müssen, seine Patientin, ein zartes Mädchen, sei so aufgetrieben gewesen, als wäre sie im achten Monat schwanger, dann hätten die aus dem Unterleib austretenden Gase ein Flötenkonzert veranstaltet. Imre konnte gar nicht begreifen, wie diese frivolen Zeilen durch die Zensur hatten rutschen können, über die Machinationen des Doktors wunderte er sich schon lange nicht mehr.
    Klara besuchte ihn ein einziges Mal, im Frühling des Jahres vierundfünfzig, vielleicht war es Mai. Damals wurde er oft von Fieber heimgesucht. Sie konnte eine einzige Reise unternehmen, für mehr langte das Geld nicht, Imre wusste das, und auch diese Fahrt

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