Blumenfresser
ersten Augenblicke im Gefängnishof vergaß er nie wieder, dieses Bild brannte sich in seine Erinnerung ein, der Himmel war zu einem kleinen, ungewissen Fleck geworden, die Mauern wuchsen in die Höhe, die Luft war säuerlich und raubte ihm den Atem. Regen, Schnee und Licht kamen aus einer fremden, fernen Welt. Nach einigen Tagen blinzelte er, als wäre er schon hundert Jahre hier vermodert. Sämtliche Völker der Monarchie konnte er sehen, Polen, Ungarn, Tschechen, Österreicher und Deutsche, schnell sprechende Italiener, in sich selbst versunkene, fiebrig blickende russische Anarchisten, schwerfällige Bosnier, dank denen er immer wusste, wo Osten war, sie zeigten es ihm mehrmals täglich mit ihren Verneigungen. Sie klirrten mit der Kette, sie gehörten zusammen. Unter den vierzig Millionen Einwohnern des Reichs hatte man sie als Insassen des Josephstädter Gefängnisses ausgewählt, später taxierte er ihre Zahl auf zweihundert, vielleicht auch auf etwas mehr.
Die ehemaligen österreichischen Offiziere waren besonders mürrisch und hielten sich von den anderen fern, sie waren jung, hochgewachsen, träge und stark, und noch schwerer als ihre Ketten ertrugen sie ihre Enttäuschung, sie waren ihren Landsleuten als Angehörige der ungarischen Revolutionsarmee in die Hände gefallen. Wenn sie Glück hatten, ergaben sie sich den Russen, doch bald darauf wurden sie den eigenen Leuten überstellt. Sie hatten sich dem Aufstand in der Hoffnung auf eine steilere Karriere angeschlossen, und dies war nun darausgeworden: das Halbdunkel von Jahrzehnten, die Verachtung ihrer einstigen Kameraden, Hohn und quälende Selbstvorwürfe. Anfänglich erwies sich ihre Kaste als stärker denn der Hass der Landsleute; solange sie konnten, zogen sie eine Mauer um sich, doch diese Mauer begann zu bröckeln, man peinigte sie mit Schlauheit und Ausdauer, und das zeigte Wirkung, in der Tiefe ihres Herzens hielten sie die Bestrafung selbst für gerechtfertigt und wollten büßen. Die kräftigen Körper verdorrten, nach ein, zwei Jahren schwankten die stolzen Männer als trockene Stengel auf dem Gefängnishof. Sie starrten den Himmel an, bis sie keine Lust mehr dazu hatten. Sie wurden nicht zurechtgewiesen, es war überflüssig. Einer von ihnen starb im Stehen, er hieß Thomas, am Vortag hatte ihn noch seine Frau besucht, eine kleine, blasse Tirolerin, er durfte sogar mit ihr allein sein.
Die Italiener waren laut, auch in der Nacht palaverten sie viel. Man konnte sie nicht ernst nehmen, sie waren wie jemand, der die Tragödie nur malt, ihre Leichtlebigkeit paarte sich mit Gemütlichkeit, sie scherzten auch mit den Aufsehern und fürchteten sich nicht vor Bestrafung, schlugen dem Wärter vertraulich auf die Schulter, schwätzten von der tränenreichen Madonna, vom Blau der Adria, den Gässchen von Palermo, vom Po, von plätschernden, weißen Brunnen voll blauem Wasser und schliefen immer lange. Abends sangen sie Arien, es hallte im Korridor. Eines Tages beging Marco Selbstmord, der kleine Italiener, den alle gemocht hatten, eines seiner Kunststücke war, dass er sich die Zunge in die Nase stecken konnte. Er band sich an die Fensterklinke und ließ sich vom Fensterbrett fallen. Die Italiener hockten eine Woche lang schweigend da, dann begannen sie von neuem ihr Singen und Schwätzen. Imre erinnerte sich, dass im Herbst achtundvierzig, als Kossuth Szeged besuchte, zahlreiche Italiener aus dem Burggefängnis freigelassen wurden, auch die hatten auf den Straßen so gesungen.
Schon in den ersten Tagen stellte er fest, dass die Ungarn die stolzesten Gefangenen waren, zumindest die herablassendsten. Hochmütig waren auch die Tschechen, doch die Ungarn übertrafen sie. Die Ungarn fühlten sich von der unwirklichen Schönheit ihrer Revolution bestätigt, und sie hatten gegenüber den anderen den Vorteil, dass ihr Kampf, wenn er auch gescheitert war, mit allem Drum und Dran ihnen gehörte, mit den Siegen, den Hoffnungen und Fehlern, aber auch mit den Grausamkeiten der Vergeltung. Die österreichischen Gefangenen interessierte die Revolution nicht mehr, sie spuckten darauf, sie war eine böse Erinnerung, ein Irrtum. Die Polen, die den Ungarn, von Väterchen Bem bis Dembinski, unzählige Generäle gegeben hatten, vergaßen nicht, wie oft die eifersüchtigen ungarischen Offiziere sie im Laufe der Kämpfe verraten hatten. Aus den Blicken der Ungarn ließ sich herauslesen, dass Wien, wären die Russen nicht gewesen, sie auf den Knien rutschend um Verzeihung
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