Blut der Wölfin
»Nicht in diesen Seiten. Jedenfalls glaube ich es nicht. Es ist schwer zu sagen, nicht wahr? Woher will man wissen, ob man die Antwort gefunden hat, wenn man sich der Frage nicht ganz sicher ist? Besser alles aufheben, nur für alle Fälle.«
Ich folgte der Stimme bis zu einer schattigen Ecke. Etwas bewegte sich dort und schoss dann hoch; lange dünne Gliedmaßen entfalteten sich wie bei einer Gottesanbeterin, die man aus dem Schlaf geweckt hat. Ein Gesicht erschien in der Dunkelheit; wirres weißes Haar verbarg das hagere Oval darunter fast völlig. Der Kopf wiegte sich von einer Seite zur anderen, wippte, drehte sich und schnüffelte; die bis auf die Knochen abgemagerten Arme wedelten. Mann oder Frau? Ich hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob es überhaupt ein Mensch war, dieses insektenartige
Ding.
Und jetzt wusste ich auch, wofür »Tee« stand und warum es Zoe so unangenehm war. T, T wie
thing.
Irgendjemand musste das für einen guten Witz gehalten haben.
Zoe trat vor, als wollte sie sprechen, aber der Blick des … der Frau war auf mich gerichtet.
»Oh, o ja«, flüsterte sie. »Ja, ja, ich verstehe. In der Tat. Oder so sieht es jedenfalls …« Tees Kopf legte sich zur Seite; die eingesunkenen Augen schossen zu einem Punkt neben ihr hinüber. »Bist du dir sicher?« Sie spähte wieder zu mir hin. »Nein, natürlich ist sie das nicht. Ich erkenne einen Wolf, wenn ich einen sehe, und das ist eine Frau.« Sie unterbrach sich und gab dann ein Zischen von sich. »Ja, natürlich. Jetzt sehe ich es auch. Menschliche Gestalt. Ich war verwirrt. Kein Grund zum Spotten.«
»Tee?«, sagte Zoe.
Ein scharrendes Geräusch. Tees Kopf reckte sich höher, überragte uns jetzt beide; er streckte sich vor und schnupperte in der Luft herum.
»Zoe?«, sagte sie. »Ja, ja, ich kann sehen. Ich bin nicht blind. Ich kenne meine Zoe. Hat sie mir etwas mitgebracht?« Ein nasses, schnalzendes Geräusch. »Ein süßes Bröckchen von meiner süßen Zoe?«
»Direkt von mir, wenn es das ist, was du willst, Tee. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
Wieder ein Schnalzen, dann ein Übelkeit erregendes Gurgelgeräusch. Tees Gesicht bewegte sich von einer Seite zur anderen, als wiegte sie sich hin und her.
»O ja, ja. Du bist gut zu mir, Zoe. Versuchst die alte Tee nie zu hintergehen. Geben und Nehmen. So funktioniert die Welt. Geben und Nehmen.«
»Nur so funktioniert es, Tee. Ich bin hier, weil …«
Ein Gackern von Tee übertönte sie. »Oh, ich weiß, warum du hier bist, Zoe. Ja, das weiß ich. Ich habe auf dich gewartet. Sobald es gekommen ist, habe ich gewusst, meine Zoe wird da sein.«
»Es?«, fragte Zoe.
Wieder ein Gackern. »Das Tor ist aufgegangen, und es ist herausgekommen. Jetzt ist es hinter meiner süßen Zoe her, und sie braucht Schutz. Aber dieses Mal sind es nicht die großen bösen Vampire, nicht wahr?«
Clay öffnete den Mund, aber Zoe schnitt ihm das Wort ab.
»Es ist etwas aus diesem Tor gekommen, Tee, aber ich bin nicht diejenige, die Schwierigkeiten damit hat. Es ist …«
»Die Wölfin.« Ein schrilles, nervenzerfaserndes Kichern, und ihr Blick flog zu der leeren Stelle neben ihr hin. »Oh, ich weiß schon, es ist nicht nett, sie so zu nennen, aber sie wird der armen Tee ja verzeihen, nicht wahr? Sie weiß, es ist nur ein kleiner Spaß. Wolfmama kann ein bisschen Spaß vertragen. Das Unheil kommt immer näher, und all die anderen Wölfe umkreisen sie, und es ist niemand da, der auf meine arme Zoe aufpasst. Niemand außer Tee.«
Tees Kopf zuckte; ihre Augen wurden schmal, als sie zu dem leeren Fleck hinstarrte. »Schafe? Was für Schafe? Ich rede von Wölfen. Bring mich nicht … hör auf. Du …« Ihr Kopf fuhr herum; ihre Augen weiteten sich. »Nein! Nicht du. Ich habe gesagt, ich rede nicht mit dir.« Ihr Blick zuckte umher; dann zog ihr Kopf sich in die Schatten zurück. »Ich werde nicht … ich habe zu tun, siehst du das nicht? Nein! Hör auf!«
Ihre langen Arme legten sich um ihren Kopf, und sie kauerte sich zusammen. Ein unheimliches Geräusch, halb Summen, halb Klagelaut, erfüllte den Raum.
»Das hätte ich wissen müssen – es ist einfach zu glattgegangen«, murmelte Zoe.
Das Geräusch schwoll an, und Zoe winkte uns zurück in die Einmündung des Bücherlabyrinths, wo die Stapel den Lärm abdämpften.
»Vielleicht sollte ich versuchen –«, begann ich.
Zoe schüttelte den Kopf. »Sie ist fort. Ich könnte sie vielleicht wieder rauslocken, mit hinreichend guten
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