Blut der Wölfin
glauben. Aber wie so viele andere Geschichten, wie etwa die meisten Anekdoten im Vermächtnisbuch des Rudels oder sogar Jaimes
Friedhof der Kuscheltiere
-Erfahrung, hatten auch diese einen didaktischen Beigeschmack. Menschen erzählen ihren Kindern Märchen, um ihnen beizubringen, dass sie nicht mit Fremden mitgehen und nicht allein in den dunklen Wald laufen sollen. Wir erzählen unseren Kindern ähnliche Geschichten, und die Botschaft ist schlicht und umfassend: Lass dich nicht mit Kräften ein, die du nicht verstehst.
»Jaime?«
Ein dumpfes Fluchen in meinem Rücken. Ich drehte mich um und sah, wie Jaime gegen die Mauer trat.
»Ich … habe … Rattenscheiße … am … Fuß«, sagte sie, wobei sie jedes Wort mit einem Tritt unterstrich.
»Du wirst in noch mehr davon treten. Das hier ist keine sandalenfreundliche Gegend.«
»Ich hatte die Wahl zwischen Sandalen und Absätzen. In denen hier kann ich immerhin rennen.«
Ich ging den Gang entlang, wobei ich große Bögen um die Kothaufen schlug.
»Rattenscheiße kann man abwischen. Mach dir lieber wegen der Ratten selbst Gedanken. Ich rieche im Moment keine – wahrscheinlich sind sie unterwegs beim Jagen –, aber sei trotzdem vorsichtig. Also, wir waren genau hier … und Clay hat ihn da unten …«
Ich starrte auf das leere Sims hinunter.
»Er ist weg. Verdammt!« Ich tastete an dem Sims entlang, obwohl ich genau sah, dass der Finger nicht mehr da war.
»Vielleicht hat eine Ratte ihn mitgenommen«, sagte Jaime. »Du hast gesagt, Rose wäre hier untergekommen, richtig? Da muss doch noch irgendwas anderes sein. Eine Decke vielleicht oder ein Kleidungsstück.«
»Aber ein Stück von ihr selbst wäre besser. Wenn eine Ratte ihn genommen hat, kann ich vielleicht …«
Ich ging ungeschickt in die Hocke, um die Witterung aufzunehmen, und dabei sah ich etwas Weißes in einem kleinen Schutthaufen unter dem Sims liegen. Ich hob zwei weiße Knochen auf, die noch durch verwesendes Knorpelgewebe verbunden waren.
»Die Ratte muss es eilig gehabt haben.« Ich hob das Ding hoch. »Reicht das?«
Die Frau, die sich gerade eben noch über den Rattendreck beklagt hatte, griff nach den Knochen, als hätte ich ihr einen Bleistift hingereicht, und musterte sie.
»Perfekt«, sagte sie.
Als sie zu mir herüberrief, dass sie fertig war, musste ich es mir verkneifen, »Hat’s funktioniert?« zu ihr hinüberzubrüllen. Wir waren jetzt seit einer Stunde unterwegs. Wenn sich an Clays Zustand nicht gerade etwas geändert hatte, das Jeremy vollkommen beschäftigte, dann musste er inzwischen wissen, dass ich fort war. Dann würde er feststellen, dass Jaime ebenfalls verschwunden war, und sich zusammenreimen, was passiert war.
Wie lange würde er brauchen, um darauf zu kommen, dass hier die besten Aussichten darauf bestanden, irgendetwas zu finden, das zu den Zombies gehört hatte? Hier, wo Rose gelebt hatte? Nicht lang genug.
»Sie wird dir folgen, ja?«, sagte ich, während Jaime ihr Arbeitsmaterial zusammenpackte. »Wir müssen nicht hierbleiben.«
»Es wird am einfachsten für sie, wenn ich in der Nähe bleibe, aber wir können dieses Haus verlassen.«
»Gut«, sagte ich auf dem Weg zur Tür.
Wir bezogen Posten in dem Gebäude gegenüber, von dem aus wir sehen konnten, ob Rose – oder einer der anderen – auftauchte. Eine Dreiviertelstunde verging. Von Jeremy oder Rose keine Spur.
»Viel länger dürfen wir nicht mehr warten«, sagte ich. »Können wir uns einen anderen Ort suchen? Wir werden ein Taxi nehmen müssen, damit die anderen meiner Fährte nicht folgen können – kannst du die Beschwörung dann noch mal machen?«
Jaime spähte durch das schmutzige Fenster ins Freie. »Ich könnte, aber wenn ich sie zwei Mal von verschiedenen Orten aus rufe, wird das etwas verwirrend für sie sein. Warten wir noch ein bisschen, sie kann ja nicht weit sein.«
Ich verlegte mich wieder darauf, von einem Fenster zum anderen zu rennen und nach jedem Anzeichen von Bewegung draußen Ausschau zu halten. Jaime hatte den Riemen ihrer Sandalen geöffnet und rieb sich den Fuß.
»Was war das?«
Ihr Blick war zu dem Eckfenster hinübergeschossen, das auf die Ostseite hinausging. Ich rannte hinüber, sah aber nichts.
»Da war jemand.« Jaime stellte sich auf die Zehenspitzen und sah mir über die Schulter.
Ich trat zur Seite. »Wo?«
»Jemand ist dort um die Ecke gekommen. Ich habe eine Gestalt gesehen. Bewegt sich ziemlich schnell.«
Die Straße war
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