Blut der Wölfin
was ihr getan habt, aber ihr könnt bestimmt noch die zehn Minuten damit warten, bis wir wieder im Hotel sind.«
Ich machte mich von Clay los. »Also bitte, glaubst du wirklich, wir würden unseren Rückzug mit Sex gefährden?«
Jeremy warf mir einen einzigen Blick zu.
»Okay, vielleicht würden wir das tun, aber heute jedenfalls nicht.«
Jeremy hob den Brief vom Boden auf. »Clay? Zieh dir dein Zeug an. Wir treffen uns am Auto.«
»Geh ruhig vor«, sagte ich. »Ich warte bloß …«
Jeremy griff nach meinem Arm und zog mich mit sich fort.
[home]
Victoriana
J eremy hatte vorgehabt, schnurstracks zum Hotel zurückzufahren, aber ich überzeugte ihn davon, dass mir noch nicht nach Schlafengehen war. Ihm die Erlaubnis für einen Stadtlauf abzuringen war nichts, das ich einfach so im Vorbeigehen erledigen konnte.
Also erzählte ich ihm etwas von Ruhelosigkeit und einer ausgetrockneten Kehle, Umstände, die mir die erholsame Nachtruhe verwehren würden, die ich brauchte. Das Gegenmittel? Ein Heißgetränk und ein langer Spaziergang. Weil wir hofften, aus diesem Spaziergang einen Stadtlauf machen zu können, fragte ich, ob ich mir dieses Heißgetränk auch in einer beliebten, bis spätabends offenen Bar in der Nähe des Stadtzentrums besorgen könnte. Danach machten wir uns auf in Richtung Cabbagetown, ein ruhiges Wohnviertel, das sich für einen Spaziergang anbot.
Ich schlenderte die schmale Wohnstraße entlang und hörte mir an, was Clay über einen Artikel über Bärenkulte zu erzählen hatte, den er in der vergangenen Woche gelesen hatte. Jeremy und ich nickten an den passenden Stellen und tranken unseren Kaffee. Meiner war selbstverständlich ein Milchkaffee – mit richtiger Vollmilch. Es klingt vielleicht merkwürdig, ausdrücklich Vollmilch zu bestellen, aber Jeremy hatte darauf bestanden. Er bestand auch auf reichlich Eis und Käse und anderen Milchprodukten. Er behauptete, das sei wichtig wegen des Calciums, aber ich hatte den Verdacht, dass er mich für mein Mutterdasein mästen wollte.
Von meinem Bauch abgesehen waren meine Brüste das Einzige an mir, das sich gerundet hatte. Jawohl, zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen richtigen Busen – sogar unter einem lockeren T-Shirt konnte man ihn noch erkennen. Nicht, dass es drauf angekommen wäre. Mein Bauch ragte noch weiter vor.
Als Mitternacht vorbei war, wurde es weniger drückend, und ein kühler Luftzug fand seinen Weg durch den Panzer aus Wolkenkratzern in die Straßen des Wohnviertels. Ich mochte Cabbagetown. Ich würde mich inzwischen nicht mehr als Stadtmensch bezeichnen, aber dies ist die Sorte von Gegend, die ich mir aussuchen würde, ein ruhiges, schon älteres Viertel wenige Minuten vom geschäftigen Stadtzentrum entfernt.
Die schmale Straße war von kleinen einstöckigen Häusern in allen denkbaren Farben gesäumt, ihre winzigen Vorgärten eifersüchtig bewacht von ebenso vielfältigen Einfassungen, von Steinmauern über Schmiedeeisen bis hin zu weiß gestrichenen Lattenzäunen. Das Viertel war in der viktorianischen Zeit entstanden, was an der Architektur der Gebäude deutlich zu sehen war – Schnitzereien, Giebel, Veranden, Balkons, Kuppeln, Türmchen, farbiges Glas. Obwohl wir das Dröhnen der Yonge Street wenige Häuserblocks entfernt noch hören konnten, war es in dieser Straße still – als lieferten die Bäume, die die Fahrbahn überwölbten, eine Isolierdecke, unter der die Bewohner im Chaos des Stadtzentrums schlafen konnten. Wir gingen in der Mitte der Straße; unsere Schritte hallten leise, und wir sprachen beinahe im Flüsterton.
Rechts von uns stand eine Reihe geparkter Autos. Die Häuser stammten aus einer Zeit, in der es noch keine Garageneinfahrten gab, und zwischen ihnen war nicht genug Platz gewesen, um nachträglich welche anzulegen. Die Autos waren meist Importwagen der mittleren Preisklasse, und es gab kaum Vierradantriebe und Minivans. Dies war eine Wohngegend für Paare und Pensionäre, weniger für Familien.
Jeremy trank den letzten Schluck Kaffee und sah sich nach einem Mülleimer um, aber natürlich gab es hier keinen.
»Hier«, sagte ich und öffnete meine Tasche.
Ich bin keine Freundin von Handtaschen, ganz sicher nicht von großen Handtaschen, aber heute Abend hatte ich für den
From-Hell
-Brief einen kleinen Rucksack mitgebracht. Jeremy war zu dem Schluss gekommen, dass dies die sicherste Transportmethode war. Wir hatten den Brief nicht im Hotel oder im Auto lassen wollen, und so hatte ich
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