Blut der Wölfin
roch. Mein Hirn griff augenblicklich nach der nächstliegenden Assoziation – ein Obdachloser.
Als ich zu Jeremy hinsah, war sein Blick auf die Gestalt gerichtet, die Augen zusammengekniffen, die gleiche Falte zwischen den Brauen. Etwas an seinem Gesichtsausdruck jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ohne auch nur in meine Richtung zu sehen, tätschelte er mir die Hand, teilte mir dadurch mit, ich solle bleiben, wo ich war. Dann begann er, sich halb gebückt vorwärtszuschleichen.
Ich sah zu Clay hinüber. Er bewegte sich bereits auf Jeremy zu, aber Jeremy schüttelte den Kopf. Als Clay zögerte, hob Jeremy die Hand und winkte ihn entschieden zurück. Ein leises Knurren drang zu mir herüber und brach ab, als Clay seinen Protest hinunterschluckte. Jeremy schlug einen Bogen nach links, um windabwärts zu gelangen. Ich beobachtete ihn; mein Blick zuckte zwischen ihm und der dunklen Gestalt hin und her. Es sah aus wie ein Mann mit einem seltsam geformten Kopf, der auf der Straße kauerte. Dann bewegte er den Kopf, und mir ging auf, dass er einen Hut aufhatte – einen schwarzen Bowler.
Der Mann grunzte. Dann richtete er sich auf. Ein scharfes kratzendes Geräusch, dann das Aufflammen eines Streichholzes. Die Flamme beleuchtete die untere Hälfte eines dunklen Gesichts. Dicke Lippen, schwarzer Backenbart, ein fehlender Vorderzahn. Das Streichholz flackerte und erlosch. Ein Weiteres wurde angerissen, brach knackend ab, dann folgte das helle Klicken, als das abgebrochene Ende auf dem Asphalt landete. Wieder ein Grunzen. Dann Hände, die leise über Stoff glitten. Er durchsuchte seine Taschen nach weiteren Streichhölzern.
»Bloody ’ell«,
murmelte er mit einem unverkennbaren britischen Akzent. Ich konnte das bleiche Rund seines Gesichts erkennen, als er sich umsah.
Dann klappte irgendwo eine Tür, und ein Lichtstrahl zuckte um uns herum. Ich duckte mich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Mann auf der Straße erstarrte.
»Sie da!«, schrie eine Stimme.
Der Mann fuhr herum und stürzte davon.
»Jeremy?«, zischte Clay.
»Geh«, sagte Jeremy.
Ich richtete mich auf und rannte hinter Clay her. Jeremy rief mir etwas nach, so laut, wie er es wagte. Ich wusste genau, dass die Anweisung nicht mir gegolten hatte, aber wenn ich nicht hörte, wie er mir ausdrücklich sagte, ich solle stehen bleiben, dann brauchte ich ja auch nicht zu gehorchen. So lautete die Regel. Jedenfalls war das meine Interpretation der Regel.
Als ich Clay eingeholt hatte, warf er mir nur einen Blick zu und nickte, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Beute zuwandte. Der Mann bewegte sich mit dem Tempo eines langsamen Joggers nach Norden. Dann bog er ab, um die Straße zu überqueren … und rannte geradewegs in die Seitenwand eines dort parkenden Minivans hinein.
Der Mann stolperte und fluchte; die Worte klangen laut auf der leeren Straße. Dann drehte er sich rasch nach allen Seiten um, um sich zu vergewissern, ob ihn jemand gehört hatte. Clay und ich blieben reglos stehen. Wir trugen beide Jeans und dunkle Oberteile, und der Blick des Mannes glitt über uns hinweg.
Dann drehte er sich wieder zu dem Minivan um und streckte beide Handflächen aus. Er berührte die Seitenwand des Autos und fuhr mit einem Grunzlaut zurück, als hätte er erwartet, eine Fläche aus Holz oder Stein zu berühren, nicht aus Metall. Er sah die Straße hinauf und hinab, die Haltung angespannt, als würde er am liebsten verschwinden, und trotzdem …
Er streckte die Hand wieder aus und drückte die Fingerspitzen gegen die Tür des Autos. Dann strich er mit beiden Händen über die Fläche hin, stieß auf den Türgriff und hielt inne. Seine Finger zeichneten die Form des Griffs nach, und er beugte sich vor, um besser sehen zu können, stieß dann aber nur einen weiteren Grunzlaut aus und versuchte nicht, die Tür zu öffnen. Dann richtete er sich wieder auf und fuhr mit seiner Untersuchung der Autotür fort. Als er beim Fenster angekommen war, spähte er ins Innere, fuhr zurück und stieß den nächsten zu lauten Fluch aus.
Ich spürte einen Atemzug, der mich am Scheitel kitzelte, und als ich herumfuhr, sah ich Jeremy hinter mir stehen.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte ich.
Er zögerte, den Blick auf den etwa sieben Meter von uns entfernten Mann gerichtet.
»Clay? Hol ihn dir. Vorsichtig und bevor er die Hauptstraße erreicht hat. Elena?« Nach einer Pause sagte er: »Hilf ihm. Aber halt dich im Hintergrund.«
Das Kreischen von Reifen
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