Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
kann«, entgegne ich mit Nachdruck.
Unter gewöhnlichen Umständen wäre ich längst gegangen. Ich achte nicht auf meine innere Stimme, die mir rät, von hier zu verschwinden und mich nicht noch weiter in die Sache verwickeln zu lassen. Doch ich fühle mich moralisch dazu verpflichtet, die Ursache von Jaimes Tod herauszufinden. Es geht nicht nur um sie, denn sie kann ich nicht mehr retten. Ich mache mir Sorgen um andere.
Giftmorde kommen selten vor und sind gefürchtet, weil sich der Anschlag häufig nicht gegen eine bestimmte Person richtet. Und selbst wenn doch, stirbt möglicherweise trotzdem ein anderer. Barrie Lou Rivers war es offenbar gleichgültig, wer ihre mit Arsen versetzten Thunfischsandwiches aß. Ihre grausame, einer verschobenen Logik folgende Tat war nicht als individueller Vergeltungsschlag gedacht, denn die Speisen von ihrem Imbissstand konnten von jedem X-Beliebigen erworben werden. Erschwerend kommt hinzu, dass Gift weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren hinterlässt. Es hat, anders als eine Kugel oder eine Messerklinge, auch fast nie eine feste Größe oder Form und verursacht keine Spuren, die man wie eine Wunde vermessen kann. Ich hatte im Laufe meines Berufslebens nur mit einer Handvoll von Giftmorden zu tun; eine frustrierende und beängstigende Angelegenheit. Den Täter aufzuhalten, war ein Wettlauf gegen die Zeit.
Inzwischen ist Sammy Chang zurück und stellt seinen Tatortkoffer auf den Boden im Schlafzimmer. Dann reicht er mir Handschuhe, als ob wir Partner wären. Ich ziehe zwei Paar übereinander und stecke die Hände in die Taschen. Auf dem Flur erklingen wieder Schritte.
»Das Telefon liegt unter dem Bett.« Ich deute darauf. Im nächsten Moment kommt Colin herein. Er trägt Straßenkleidung: ein kariertes Hemd und eine hellgraue Hose, eine dunkelblaue Windjacke mit der Aufschrift GBI und eine Brille mit Regentropfen auf den Gläsern.
In der Hand hält er denselben Hartschalenkoffer, den er heute schon im Gefängnis dabei hatte. Nachdem er ihn abgestellt hat, wendet er sich an mich. »Womit haben wir es zu tun?«
»Keine offensichtlichen Verletzungen, doch ich habe sie noch nicht untersucht. Offenbar hat sie nach dem Telefon getastet und dabei vielleicht ihr Glas umgeworfen«, antworte ich. »Scotch, glaube ich. Als ich mich heute am frühen Morgen von ihr verabschiedet habe, hat sie Scotch getrunken. Das Telefon ist unter dem Bett.«
»Hat sie den Scotch selbst eingeschenkt?« Chang beugt sich vor und hebt mit einer behandschuhten Hand die Bettlaken an.
»Ja, und den Wein auch.«
»Mich interessiert nur, wessen Fingerabdrücke und DNA an den fraglichen Gegenständen sein könnten.«
»Sie beide brauchen wir hier drin nicht mehr«, sagt Colin zu Officer Harley. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, aber je weniger Leute hier herumstehen, desto besser, okay? Ich muss sicher nicht darauf hinweisen, dass Sie in dieser Wohnung nichts essen, nichts trinken und nichts anfassen dürfen. Mittlerweile haben wir mehrere Opfer, die mit irgendeiner unbekannten Substanz in Kontakt gekommen sind.«
»Also gehen Sie nicht von Drogen aus?«, erwidert Officer Harley. »Ich habe keine Tablettendöschen oder so etwas entdeckt. Aber ich habe keine Schränke oder Schubladen aufgemacht und mich auch sonst nicht umgeschaut. Wenn Sie möchten, könnte ich ja im Badezimmer und in der Hausapotheke nachsehen.«
»Wie ich bereits sagte, kennen wir die Substanz nicht«, erwidert Colin. »Es könnten Drogen sein. Allerdings auch etwas anderes.«
»Wir kommen jetzt allein zurecht«, teilt Chang dem Polizisten mit. »Doch Sie beide sollten draußen den Flur absichern. Wir möchten nicht, dass jemand hier hereinspaziert. Schließlich könnten auch noch andere einen Schlüssel haben.«
»Als Marino und ich gestern bei ihr zu Abend gegessen haben, wurde Sushi geliefert«, berichte ich Colin und Chang. Ich habe mich ans Fenster zurückgezogen, um nicht beim Fotografieren im Weg zu sein. Außerdem braucht Colin genug Platz, um seinen Tatortkoffer zu öffnen, denn er schickt sich gerade an, die Leiche zu untersuchen. »Es wäre sicher eine gute Idee, bei Savannah Sushi Fusion nachzufragen. Aber falls Sie allein weitermachen wollen …? Schließlich besuchte ich gestern am späten Nachmittag Kathleen Lawler, und heute Vormittag war sie tot. Und letzte Nacht war ich bis eins bei Jaime, und jetzt lebt sie ebenfalls nicht mehr.«
»Sofern Sie nicht vorhaben, ein Geständnis abzulegen«, meint Colin und zieht Handschuhe
Weitere Kostenlose Bücher