Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Sushi oder über meine Befürchtungen zu äußern. Auch meinen gestrigen Abend mit Jaime werde ich nicht schildern. Das spare ich mir für Chang, Colin oder sonst jemanden auf. Marino und ich werden getrennt voneinander aussagen müssen, vielleicht vor einem Detective von der Mordkommission Savannahs, aber nicht vor Officer J. T. Harley, der zwar nett, aber naiv und viel zu sehr darauf versessen ist, Sherlock Holmes zu spielen. Chang wird sich darum kümmern, dass unsere Vernehmung von einer kompetenten Person durchgeführt wird, abhängig davon, in wessen Zuständigkeitsbereich die Ermittlungen fallen. Wahrscheinlich werden das GBI und die örtliche Polizei zusammenarbeiten. Und später wird sich das FBI einschalten. Falls Jaimes Tod mit den Vorgängen in Massachusetts zusammenhängt – insbesondere mit dem mutmaßlichen Giftanschlag auf Dawn Kincaid –, sind mehrere Bundesstaaten beteiligt. Dann wird das FBI die Ermittlungen in Savannah in die Hand nehmen und möglicherweise alles an sich reißen wie schon oben im Norden.
Durch einen Spalt zwischen den zugezogenen Gardinen spähe ich hinunter auf die Straße, wo Chang seine Tatortausrüstung aus dem SUV holt. Regen prasselt auf das Dach wie kleine Kieselsteine, und über der niedrigen Silhouette aus Privathäusern, historischen Gebäuden und Bäumen zucken Blitze. Der Donner klingt wie ein Trommelwirbel aus der Ferne. Ich weiß genau, was ich tun würde, wenn Cambridge nicht fünfzehnhundert Kilometer weit weg wäre.
Ich würde anordnen, sofort den Laster mit unserem mobilen Autopsiemodul an Bord zum Tatort zu fahren. Doch aufgrund der Distanz ist das so gut wie unmöglich, denn Colin Dengate wird mit der Autopsie keine zwei Tage warten wollen. Und das sollte er auch nicht. Wir wollen und dürfen keine Zeit verlieren, denn wir brauchen Serum, Gewebeproben und den Mageninhalt. Natürlich gibt es in der Nähe von Atlanta noch das Zentrum für Seuchenbekämpfung und Gesundheitsvorsorge, doch auf dessen Lastwagen wird Colin vermutlich ebenfalls nicht warten wollen. Schließlich haben wir die Toten berührt, ohne dass sich Folgen gezeigt hätten. Auch die anderen Personen, die mit ihnen in Kontakt gekommen sind, scheinen wohlauf zu sein. Ich war in Kathleen Lawlers Gefängniszelle, habe sie angefasst, die Luft dort geatmet und an der Substanz in ihrem Waschbecken geschnuppert. Ich bin mit ihrem Blut, ihrem Mageninhalt, ihrem Körper in Berührung gekommen und fühle mich nicht krank. Marino, Colin und Chang ebenfalls nicht. Nichts weist darauf hin, dass uns Gefahr droht.
Das Gift, das Kathleen, Jaime und Dawn Kincaid vermutlich verabreicht wurde – angenommen, dass es sich um dasselbe handelt –, wirkt verhältnismäßig schnell. Es bringt die Verdauung zum Erliegen und verursacht Atemnot. Offenbar ist es etwas, das zu Lähmungserscheinungen führt, und wird über Lebensmittel oder Getränke verabreicht. Ich erinnere mich, wie Jaime aussah, als ich mich heute Morgen gegen eins von ihr verabschiedet habe. Ihre Lider waren schwer. Ihre Sprache war verwaschen. Ihre Pupillen waren geweitet. Ich habe das auf den Alkohol geschoben, doch die Tabletten gegen Übersäuerung auf der Küchentheke deuten darauf hin, dass sie Magenbeschwerden hatte. Und darüber hat auch Kathleen geklagt, wenn ihre Zellennachbarin die Wahrheit sagt.
»Wissen Sie, die untersuchen jetzt alle unsere Tatorte, seit sie einen Lehrgang an dieser Forensikakademie in Knoxville gemacht haben, wo auch die Body Farm ist …«, sagt Officer Harley.
Er redet und redet, doch ich höre nur mit halbem Ohr hin, während ich weiter durchs Fenster in den stürmischen Spätnachmittag hinausschaue. Der Wind peitscht die Bäume, und Autoscheinwerfer nähern sich auf der Abercorn Street. Dann kommt der Land Rover in Sicht.
»Jeder Ermittler am GBI ist dort ausgebildet worden, einfach jeder. Dehalb haben wir vermutlich die besten Tatortexperten in den gesamten Vereinigten Staaten«, prahlt Officer Harley, als ließe ihn die Tote auf dem Bett völlig kalt. Oder als habe sich hier nicht gerade eine Tragödie abgespielt.
Officer Harley kannte Jaime Berger nicht. Er hat keine Ahnung, wer sie ist, wer wir anderen sind und was wir einander bedeutet haben. Während Colin parkt und die Scheinwerfer abschaltet, spüre ich, wie sich etwas in mir verändert. Ich empfinde eine gleichgültige Ruhe und Distanziertheit, so wie immer, wenn mir etwas zu viel wird und ich trotzdem funktionieren muss. Und zwar auf höchstem Niveau.
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