Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Eine Botoxzigarette zu rauchen ist zwar kein gnädiger Tod, sondern ein ziemlich grausamer, aber das können Sie ja weglassen.«
Benton trinkt seinen Kaffee aus und blickt hinaus auf den Fluss. »Bestärken Sie sie in dem Bild, das sie von sich hat«, fährt er fort. »Richtig, Sie hätten auch etwas gegen schlechte Menschen und deshalb Verständnis dafür, dass man manchmal versucht ist, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen … Vielleicht wird Tara Grimm, die Sie übrigens mit Direktorin Grimm ansprechen sollten, um ihr zu zeigen, dass Sie ihre Machtposition respektieren … ganz recht, es geht immer um Macht. Vielleicht wird sie ja gestehen, dass sie die Zigarette oder die Henkersmahlzeit vergiftet hat, allerdings nur, um sicherzugehen, dass Barrie Lou Rivers und all die anderen ihre verdiente Strafe bekamen. Damit ihnen das, was sie ihren Opfern angetan haben, mit gleicher Münze heimgezahlt wurde. Auge um Auge, mit einer kleinen Dreingabe. Sie hat das Messer noch einmal umgedreht, um ihren Standpunkt zu untermauern.«
»Bei Menschen wie ihr muss man ausnutzen, dass sie wirklich glauben, im Recht zu sein«, erklärt Benton an mich gewandt, nachdem er das Telefonat beendet hat. »Man muss ihren Narzissmus bedienen. Tara Grimm hat sich als große Menschenfreundin verkauft, und ihr Gefängnis galt als derart mustergültig, dass sie immer wieder ausgezeichnet wurde. Stellenangebote, Politiker, die sich herumführen ließen.«
»Ja, ich habe die Urkunden an den Wänden gesehen.«
»Am Tag deines Besuchs dort«, antwortet er, »hatten gerade einige Vertreter einer Strafanstalt für Männer in Kalifornien die große Besichtigungstour hinter sich gebracht und haben überlegt, ob sie sie als ersten weiblichen Direktor einstellen sollen.«
»Wäre es nicht Ironie des Schicksals, wenn sie in Haus Bravo landen würde? Vielleicht sogar in Lola Daggettes ehemaliger Zelle?«, frage ich.
»Ich gebe es weiter«, sagt Benton mit sarkastischem Unterton. »Das und Lucys Vorschlag, Gabe Mullery als nächster Angehöriger solle doch entscheiden, ob Dawn Kincaids lebenserhaltende Maschinen abgeschaltet werden.«
»Keine Ahnung, wie es mit ihr weitergeht«, entgegne ich. Gabe Mullery wird ganz sicher nicht derjenige sein, der Dawn Kincaids Stecker zieht.
Offensichtlich hat er wirklich noch nie von ihr gehört und erinnert sich nur vage daran, dass im Zusammenhang mit den Morden in Massachusetts in den Nachrichten ihr Name gefallen ist. Seines Wissens nach ist seine Frau Roberta Price bei einer Familie in Atlanta aufgewachsen, die sie manchmal an Feiertagen besucht haben. Von einer Schwester war ihm nichts bekannt.
»Wahrscheinlich wird sie in eine andere Einrichtung verlegt«, mutmaße ich. »Ein Mündel des Staates und von Beatmungsgeräten am Leben erhalten, bis eines Tages der klinische Tod eintritt.«
»Mehr Rücksicht, als ihre Opfer erfahren haben.«
»Ich mache uns noch einen Kaffee«, schlage ich vor.
Als ich aufstehe, gleitet gerade ein vollbeladenes und von Schleppern gezogenes Containerschiff an unserem Fenster vorbei. In der Kochnische muss ich wieder an den ehemaligen Kartoffelkeller hinter dem reizenden Haus denken, in dem Roberta Price und Dawn Kincaid im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren eine ganze Familie ausgelöscht haben. Ich weiß nicht, ob Roberta die Waffe, die bei ihr gefunden wurde, je benutzt hat, ein Klappmesser mit einer siebeneinhalb Zentimeter breiten Klinge und einem gebogenen Heft, dessen Form den seltsamen parallelen Blutergüssen im Fall Jordan entspricht. Allerdings glaube ich, dass es die Spezialität ihrer Zwillingsschwester Dawn war, Menschen zu erstechen. Roberta hat lieber aus der Distanz gemordet. Vermutlich hat sie das Messer als Souvenir oder Symbol all die Jahre aufbewahrt, und zwar in einer Schatulle aus Rosenholz in einem unterirdischen, wunderbar ausgestatteten Raum mit automatisch geregelter Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Belüftung.
In dem umgebauten Kartoffelkeller, erreichbar durch eine unter einem Teppich verborgene Falltür im Büro, befand sich ein bemerkenswertes Arsenal von Billigzigaretten, Fertigmahlzeiten, Injektionsgeräten und anderen Produkten, die Roberta Price manipuliert hat. Das Botulinum-A hat sie in regelmäßigen Abständen bei Herstellern in China geordert, die keine oder nur wenige Fragen stellen. Das Schadstoffbekämpfungskommando hat unter den vielen beängstigenden Dingen auch alte Kuverts und Briefmarken gefunden, deren Rückseite angefeuchtet
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