Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Tochter war, die Sie zur Adoption freigegeben hatten?« Inzwischen stelle ich die Fragen, die mir auf der Zunge liegen.
»Ich hatte keine Ahnung. Natürlich nahm ich an, dass jemand, der ein Kind adoptiert, ihm den Namen gibt, der ihm gefällt. Wahrscheinlich waren die Kincaids, wer immer sie auch sein mögen, die erste Familie, bei der Dawn gelebt hat.«
»Haben Sie sie Dawn genannt?«
»Natürlich nicht. Wie ich schon sagte, hatte ich sie nie gesehen und auch nie im Arm gehalten. Als vorzeitig die Wehen einsetzten, war ich hier im GPFW. Ich wurde auf schnellstem Weg ins Savannah Community Hospital gebracht. Und anschließend sofort zurück in meine Zelle, als wäre nie etwas geschehen. Eine Nachsorgeuntersuchung gab es nicht.«
»War die Freigabe zur Adoption Ihre Entscheidung?«
»Welche Alternative hatte ich denn?« Sie wird laut. »Wenn man eingesperrt ist wie ein Tier, gibt man seine Kinder weg. So läuft es eben. Denken Sie nur an die verdammten Umstände.«
Sie sieht mich finster an. Ich schweige.
»So etwas nennt man in Sünde gezeugt, und die Sünden der Eltern werden weitergegeben«, spottet sie, jetzt wieder in leisem Ton. »Es ist ein Wunder, dass überhaupt jemand Kinder nimmt, die unter solchen Umständen geboren werden. Was hätte ich denn tun sollen, sie Jack geben?« Kurz sieht sie mich den Tränen nah an. »Er war doch erst zwölf«, sagt sie. »Was zum Teufel hätte er mit Dawn, mir oder der ganzen Situation anfangen sollen. Außerdem wäre es gesetzlich gar nicht erlaubt gewesen, was ein Jammer ist. Wir hätten es geschafft, er und ich. Natürlich habe ich oft an das Lebewesen gedacht, das wir zusammen geschaffen haben. Aber ich habe immer geglaubt, dass niemand eine Mutter wie mich gebrauchen kann. Stellen Sie sich also meine Überraschung vor, als sich dreiundzwanzig Jahre später eine Frau namens Dawn Kincaid mit mir in Verbindung setzte. Anfangs konnte ich es nicht fassen und habe es für einen Trick gehalten. Vielleicht war sie ja nur eine Studentin, die für eine Arbeit recherchiert. Woher soll ich wissen, ob diese Person wirklich mein Baby ist? , habe ich mich gefragt. Aber ich musste sie nur anschauen. Sie sah Jack so ähnlich, wenigstens dem Jack, an den ich mich erinnerte. Es war unheimlich, so als wäre er als Mädchen zu mir zurückgekehrt. Wie eine Vision.«
»Sie haben erwähnt, sie habe irgendwie herausgefunden, wer ihre leibliche Mutter ist. Was ist mit ihrem Vater?«, erkundige ich mich. »Wusste sie bei ihrer ersten Begegnung schon über Jack Bescheid?«
Dieses fehlende Teilchen des Puzzlespiels hat bis jetzt noch niemand gefunden, nicht einmal Benton und seine Kollegen beim FBI. Wir wissen, dass Dawn Kincaid in den Monaten vor Jacks Ermordung in dem ehemaligen Kapitänshaus in Salem wohnte, das er gerade renovierte. Außerdem ist uns bekannt, dass er seit einigen Jahren Kontakt zu ihr hatte. Allerdings gibt es keine Informationen darüber, wie lange dieser Kontakt schon anhielt, auf welchem Wege er zustande kam und wie eng die Beziehung war.
Ich habe in meinem Gedächtnis gekramt und mich an meine Anfangstage in Richmond zurückerinnert, als Jack bei mir die Facharztausbildung zum forensischen Pathologen absolvierte. Allerdings fällt mir keine Situation ein, in der er mir etwas von einer unehelichen Tochter und deren Mutter erzählt hätte. Ich hatte gehört, er sei als Junge von einer Mitarbeiterin eines Erziehungsheims missbraucht worden, doch darin erschöpfte sich mein Wissen. Er hat nie darüber gesprochen. Ich hätte nachhaken sollen. Ich hätte mir in einer Phase seines Lebens, in der es vielleicht noch etwas genützt hätte, mehr Mühe geben müssen. Doch noch während mir das durch den Kopf schießt, reift tief in mir die Überzeugung, dass jeder Versuch zwecklos gewesen wäre. Jack hätte meine Hilfe nie angenommen, weil er nicht glaubte, welche zu brauchen.
»Sie wusste Bescheid, und zwar durch mich«, erwidert Kathleen. »Ich war offen zu ihr und habe ihr erklärt, wer ihre wahren Eltern sind. Außerdem habe ich ihr alte Fotos von ihm gezeigt und auch ein paar neueren Datums, die er mir geschickt hat. Wir sind während der Jahre in Verbindung geblieben. Anfangs haben wir uns auch geschrieben.«
Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich nach Jacks Tod seine Sachen durchgeschaut habe. Briefe von Kathleen Lawler sind mir dabei nicht aufgefallen.
»Später haben wir uns eine Zeitlang gemailt, was für mich momentan die schlimmste Einschränkung ist«,
Weitere Kostenlose Bücher