Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
frage ich. »Schwierigkeiten, die Ihre Verlegung notwendig gemacht haben?«
»Sie meinen, in Haus Bravo?« Kathleen erhebt die Stimme. »Nein, verdammt. Ich war noch nie zuvor in Einzelhaft. Warum auch? Die müssen mich da rauslassen. Ich will wieder ein normales Leben führen.«
Officer Macon kommt an den Fenstern des Besucherzimmers vorbei. Ich spüre, dass er zu uns hereinschaut, und weiche seinem Blick aus. Dabei denke ich an das Gedicht, das Kathleen mir geschickt, und an die Literaturzeitschrift, die sie bis vor wenigen Wochen herausgegeben hat. Wie oft hat sie wohl ihre eigenen Texte veröffentlicht und andere Autorinnen übergangen? Ich sehe auf die Uhr. Unsere Stunde ist beinahe um.
»Es war wirklich nett von Ihnen, mir das Foto von Jack mitzubringen. « Kathleen hält das Foto auf Armeslänge von sich und kneift die Augen zusammen. »Hoffentlich läuft Ihr Prozess gut.«
Die Art, wie sie das sagt, lässt mich aufmerken. Aber ich reagiere nicht.
»Ein Prozess ist nämlich kein Kindergeburtstag. Ich bekenne mich normalerweise einfach schuldig, um mit der Mindeststrafe davonzukommen. So erspare ich dem Steuerzahler Kosten. Ich habe schon ein paarmal Bewährung bekommen, weil ich so ehrlich war, reinen Tisch zu machen. Ich war’s, und es tut mir leid . Wenn man sich keine Sorgen um seinen guten Ruf machen muss, gibt man am besten alles zu. Ansonsten kriegt man es nur mit Geschworenen zu tun, die im Namen des Volkes ein Exempel an einem statuieren wollen«, höhnt sie.
Sie denkt nicht an Dawn Kincaid, die sich niemals zu einer Straftat bekennen wird. Ich bekomme ein mulmiges Gefühl in der Magengrube.
»Sie hingegen haben einen Ruf zu verlieren, Dr. Kay Scarpetta. Einen ganz ausgezeichneten Ruf, stimmt’s? Deshalb ist es für Sie ein wenig komplizierter.« Ihr Lächeln ist kalt, ihr Blick stumpf. »Ich bin wirklich froh, dass wir uns endlich begegnet sind, damit ich sehe, worum der ganze Wirbel ging.«
»Ich habe keine Ahnung, von welchem Wirbel Sie reden.«
»Ich hatte es so satt, ständig nur von Ihnen zu hören. Vermutlich haben Sie die Briefe nicht gelesen.«
Ich gehe nicht auf ihren und Jacks angeblichen Briefwechsel ein. Briefe, die ich nie zu Gesicht bekommen habe.
»Ich merke Ihnen an, dass Sie sie nicht kennen.« Als Kathleen grinsend nickt, kann ich ihre Zahnlücken sehen. »Sie wissen wirklich nichts, oder? Das ergibt auch Sinn. Wahrscheinlich wären Sie sonst nicht bereit gewesen, mich zu besuchen. Tja, und vielleicht wären Sie dann auch nicht so selbstgefällig und würden nicht so auf dem hohen Ross sitzen.«
Ich verharre reglos. Ganz gelassen. Nichts ist mir anzumerken. Weder Neugier noch Wut.
»Bevor es E-Mails gab, haben wir uns Briefe geschrieben«, spricht sie weiter. »Er hat immer liniertes Papier genommen, als ob er noch ein Schuljunge wäre. Das muss in den frühen Neunzigern gewesen sein. Damals arbeitete Jack für Sie in Richmond und fühlte sich absolut elend. Mir schrieb er öfter, Sie bräuchten nichts weiter als einen guten Fick. Sie seien eine frustrierte und durchgeknallte Zicke, was sich vielleicht bessern würde, wenn Sie mal jemand so richtig durchvögelt. Er und der Detective von der Mordkommission, mit dem Sie damals viel zusammengearbeitet haben, haben im Leichenschauhaus oder an Tatorten darüber Witze gerissen. Jemand müsse Sie mal heiß machen, weil Sie zu viel Zeit in der Kühlkammer mit Leichen verbringen würden. Jemand müsse Ihnen zeigen, wie es ist, mit einem Mann zusammen zu sein, der noch einen hochkriegt.«
Pete Marino war Detective bei der Mordkommission von Richmond, als ich dort Chief Medical Examiner war. Inzwischen ist mir klar, warum ich die Briefe nie gesehen habe. Sicher liegen sie beim FBI. Benton ist der Kriminologe und forensische Psychologe, der die Außenstelle des FBI in Boston berät. Ich weiß, dass er die E-Mails von Kathleen und Jack gelesen hat, denn er hat den Inhalt kurz für mich zusammengefasst. Außerdem bezweifle ich nicht, dass er sich auch mit den Briefen befasst hat. Er hätte mich nicht dem aussetzen wollen, was Kathleen Lawler mir gerade an den Kopf geworfen hat, und hätte verhindert, dass ich von Marinos böswilligen Bemerkungen und seinen Witzen auf meine Kosten und hinter meinem Rücken erfahre. Benton würde mich vor kränkenden Dingen wie diesen schützen, und zwar mit der Begründung, dass so etwas niemanden weiterbringt. Also bleibe ich ruhig und gelassen und werde nicht reagieren. Diese Genugtuung gönne ich
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