Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Recherchen zufolge ist es in verschiedenen Fällen zu einer anhaltenden sexuellen Beziehung zwischen einer Täterin und ihrem jüngeren männlichen Opfer gekommen, und Kathleen war in der ganzen Zeit, die ich Jack kannte, immer wieder eine Zeitlang in Freiheit. Falls es Sexualkontakte zwischen ihm und der Frau, die ihn als Jungen missbraucht hatte, gegeben hat, würde mich interessieren, ob sie zeitlich mit seinen immer wiederkehrenden Phasen zusammenfallen, wenn er durchdrehte und einfach spurlos verschwand.
Ich möchte wissen, wann er herausgefunden hat, dass Dawn Kincaid seine Tochter ist, und warum er sich vor kurzem mit ihr in Massachusetts in Verbindung gesetzt und ihr erlaubt hat, in seinem Haus in Salem zu wohnen. Wie lange ging das schon so? Hat er deshalb Frau und Kinder verlassen? Wusste Jack, dass er mit gefährlichen Drogen manipuliert wurde, oder gehörte das zu Dawns dunklen Geheimnissen? Hat er selbst bemerkt, dass er sich immer seltsamer verhielt? Und wessen Idee war es, dass er sich während meiner Abwesenheit im Cambridge Forensic Center auf illegale Machenschaften einließ?
Ich habe keine Ahnung, was Kathleen weiß und was sie antworten wird, doch ich werde so an das Gespräch herangehen, wie ich es geplant und mit Leonard Brazzo, meinem Anwalt, einstudiert habe. Von mir wird sie nichts erfahren, was später Dawn Kincaid zu Ohren kommen und ihr bei der Vorbereitung ihrer Verteidigung helfen könnte.
»Nun, ich dachte mir schon, dass Sie nichts bei sich haben würden, was mit diesen Fällen in Zusammenhang steht«, meint Tara Grimm, und ich merke ihr ihre Enttäuschung an. »Ich muss gestehen, dass ich zu den Vorgängen in Massachusetts eine Menge Fragen habe.«
»Ich werde keine Einzelheiten aus den Ermittlungen mit ihr besprechen«, antworte ich der Direktorin.
»Mit Sicherheit wird Kathleen Sie danach fragen. Schließlich geht es um ihre hochintelligente Tochter. Dawn Kincaid soll diese Leute ermordet und versucht haben, auch Sie umzubringen? « Sie mustert mich unverwandt.
»Ich werde mit Kathleen weder diese Fälle noch andere erörtern. « Von mir erfährt die Direktorin nichts. »Deshalb bin ich nicht hier«, beharre ich. »Aber ich habe ein Foto dabei, das ich ihr gern geben würde.«
»Wenn ich es sehen darf.« Sie streckt eine zierliche Hand mit perfekt manikürten, dunkelrosa lackierten Nägeln aus, die sie sich offenbar erst kürzlich hat machen lassen. Sie trägt viele Ringe und eine goldene Uhr.
Ich reiche ihr den unbeschrifteten Umschlag. Sie holt das Foto von Jack Fielding heraus, wie er gerade, mit nacktem Oberkörper und in Joggingshorts, seinen geliebten kirschroten Mustang, Baujahr 67, wäscht. Auf dem etwa fünf Jahre alten Foto, das zwischen zwei Ehen und vor seinem Niedergang aufgenommen wurde, grinst er strahlend in die Kamera. Ich habe ihn zwar nicht obduziert, aber während der vier Monate seit dem Mord sein Leben gründlich unter die Lupe genommen. Zum Teil deshalb, weil ich herausfinden wollte, was ich hätte tun können, um diesen Mord zu verhindern. Allerdings glaube ich nicht, dass das möglich gewesen wäre. Schließlich bin ich stets dabei gescheitert, ihm in den Arm zu fallen, wenn er wieder einmal dabei war, sich selbst zu schaden. Als ich dasitze und das Foto ansehe, flammen Zorn und Schuldgefühle in mir auf. Gefolgt von Trauer.
»Nun, ich denke, das ist in Ordnung«, sagt die Direktorin. »Ein angenehmer Anblick, das muss man ihm lassen. Offenbar einer dieser Bodybuilding-Verrückten. Wie viele Stunden am Tag muss man da wohl investieren?«
Ich betrachte die gerahmten Zeugnisse und Auszeichnungen an den Wänden, weil ich sie nicht beim Anschauen des Fotos beobachten will, ohne sicher zu sein, was mich daran so stört. Vielleicht ist es schwieriger, Jack mit den Augen einer Fremden zu sehen. Gefängnisdirektorin des Jahres. Herausragende Verdienste. Belobigung für beispielhafte Pflichterfüllung. Exzellenzpreis. Vorgesetzte des Monats . Einige dieser Preise sind ihr mehr als einmal verliehen worden. Außerdem hat sie einen BA cum laude von der Spalding University in Kentucky. Allerdings klingt sie nicht wie eine Einheimische, eher nach Louisiana, weshalb ich sie frage, woher sie kommt.
»Ursprünglich aus Mississippi«, erwidert sie. »Mein Vater war dort Leiter der staatlichen Vollzugsanstalt, weshalb ich meine Kindheit in einem brettebenen, achttausend Hektar großen Stück Delta inmitten von Sojabohnen und Baumwolle verbracht habe, die die
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