Blut für Blut: Thriller (German Edition)
nur von vereinzeltem Schniefen oder Weinen von einigen Trauergästen unterbrochen. Die Orgel setzte ein mit dem Psalm Sei getrost, wo du auch gehst, und der Kirchenchor setzte vor der dicht gedrängten Versammlung zum Gesang an.
Ein Sonnenstrahl stahl sich durch das Fenster direkt neben dem Altar und umgab den Pfarrer mit einer Aura aus Licht. Er drehte sich zu ihnen um.
»Friede sei mit euch von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus.«
Rebekka ließ die Augen zwischen den vielen Menschen umherwandern, während der Pfarrer das Vaterunser sprach. Ihr Blick landete auf Anne Munk, die laut weinte, während sie sich mit einem Papiertaschentuch über das von Ekzemen geplagte Gesicht fuhr. Als sie das Taschentuch zusammenfaltete, sah Rebekka, dass es blutgesprenkelt war.
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Njalsgade 42, dritte Etage rechts. Njalsgade 42, dritte Etage rechts. Njalsgade …
Sejr hatte die Adresse in den letzten Tagen diverse Male im Stillen wiederholt, bis jetzt jedoch nicht den Mut gefunden hinzufahren. Er musste sich das Haus ansehen, vielleicht auch die Sprechanlage. Nicht dass es ihm einfallen würde zu klingeln, das wäre zu brutal, würde sie beide zu sehr überrumpeln – nein, er wollte nur den Namen an der Tür sehen, ihn mit eigenen Augen sehen. Iben B. Winkler. Iben Brask Winkler. Noch besser ging es nicht.
Der Bus rumpelte durch die Straßen von Kopenhagen. Er hatte vor Aufregung Schmetterlinge im Bauch, und er hätte sein Vorhaben beinahe aufgegeben, als er in der sengenden Hitze an der Bushaltestelle gestanden hatte. Die Lanterne hatte gelockt, und er hatte sich zwingen müssen, in den Bus zu steigen, eine Fahrkarte zu kaufen und sich auf einen Fensterplatz zu setzen. Der Bus fuhr am Hauptbahnhof vorbei, die Tietgensgade hinunter, in der die alte venerische Klinik Rudolph Berg lag. Sejr erinnerte sich kurz, dass er in seinen jungen Jahren regelmäßig die Klinik frequentiert hatte, doch er scheuchte die unangenehmen Erinnerungen fort und konzentrierte sich stattdessen auf seine Missionen. Er hatte zwei, die Mission Iben und die Mission Mord, und wenn beide erledigt waren, konnte Gottvater, wenn er denn wollte, gerne sein Lebenslicht ausblasen. Es war nicht so, dass er nicht weiterleben wollte, aber falls er sterben sollte, konnte er es dann mit gutem Gewissen tun. Er starrte durch die schmutzige Scheibe, als der Bus über die Langebro rumpelte, und betrachtete die modernen Hotels und Bürogebäude entlang des Kais. Eine Schar Möwen flatterte am Horizont vorbei, und ein gelber Wasserbus glitt über das glitzernde Wasser.
»Njalsgade.« Die Stimme des Fahrers kratzte im Lautsprecher, und Sejr erhob sich schwerfällig. Dieser elende Körper. Atemlos stieg er aus dem Bus, blieb eine Weile auf dem Bürgersteig stehen und sah sich verwirrt um. Es war Jahre her, dass er das letzte Mal auf Islands Brygge gewesen war. In welche Richtung er wohl gehen musste? Er kratzte sich bedächtig das Kinn und spürte ein paar widerspenstige Bartstoppeln in seine Finger piksen. Verdammt, er hatte sich solche Mühe gegeben mit der Rasur heute Morgen. Mit unsicheren Schritten ging er die Straße hinunter und stand kurz darauf vor der Nummer 42. Das Herz schlug hart unter dem Hemd, und er fuhr mit zitterndem Finger über die Namensschilder der Bewohner. Jensen, Abbas, Burmeister, Olsen … Winkler stand dort nur. Dritte Etage rechts. Da stand nicht Brask. Nicht einmal Iben B. Winkler oder nur B. Winkler. Die Enttäuschung traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube, und er ging ein paar Schritte zurück, um zu sehen, ob das die richtige Hausnummer war. Es war wirklich die Nummer 42.
Einen Augenblick stand er ratlos auf dem Bürgersteig. Was hatte er sich eigentlich vorgestellt, als er hierhergefahren war? Hatte er geglaubt, dass Iben aus der Tür treten, ihn sofort wiedererkennen und ihm um den Hals fallen würde? Er wusste es nicht, und plötzlich machte er eine unmotivierte Bewegung zur Fahrbahn hin, wo ein Lieferwagen ihm nur mit knapper Not ausweichen konnte und der Fahrer laut hupte und ihm den Stinkefinger zeigte. Sejr überquerte die Straße, sah zu dem roten Mehrfamilienhaus hoch und entdeckte die Wohnung im dritten Stock rechts, in der Iben wohnte. Im Fenster standen ein paar Topfpflanzen, und vor jedem Fenster hingen schöne, helle Gardinen. Er blieb ein paar Minuten stehen, bis er in einem Schaufenster sein Spiegelbild sah. Er sah einen alten Mann, einen alten, erbärmlichen Mann mit einem Bierbauch, steifen Beinen
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