Blut für Blut: Thriller (German Edition)
nicht?«
Sie antwortete nicht. Nach vier Jahren bei der mobilen Spezialeinheit, wo man gut und gern zwei Drittel des Jahres im In-und Ausland unterwegs war, war sie eine wahre Meisterin im Packen geworden.
»Ich habe den Eindruck, ich störe. Was machst du gerade, Bekka?«
»Ich arbeite noch, wahrscheinlich wirke ich deshalb so geistesabwesend«, sagte sie schnell. Sie tauschten Gutenachtküsse aus, wünschten sich eine gute Reise beziehungsweise frohes Schaffen und legten auf.
Sie stellte das Handy auf lautlos und ging zurück ins Esszimmer, wo Niclas über den Tisch gelehnt dasaß, während er sich jede Menge Notizen machte. Sie blieb in der Tür stehen und betrachtete ihn ein paar Sekunden. Er hatte sich die Hemdsärmel hochgekrempelt, und sein Gesicht hatte einen konzentrierten Ausdruck angenommen. Er zuckte zusammen, als er sie sah, doch dann strahlte er sie an.
»Gut. Sieh dir das mal an …«
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Sejr übergab sich in dem Moment, in dem er mit zittrigen Händen die Wohnungstür aufgeschlossen hatte.
»Verdammt«, rief er ärgerlich und schloss die Tür hinter sich. Der Gestank breitete sich schnell in der kleinen Diele aus und rief neue Übelkeit hervor. Alles war eingesaut, das Hemd, die Hose und die Schuhe, die aus Leinen waren. Sejr stützte sich an der Wand ab, während er mit zitternden Beinen ins Bad wankte. Er zog die schmutzigen Sachen aus, streifte die Schuhe ab, hob sie mit spitzen Fingern hoch und warf sie ins Waschbecken. Dann ließ er warmes Wasser mit dem letzten Rest Flüssigseife ein. Sie mussten sich abwaschen lassen, das hoffte er, denn er hatte keine anderen Sommerschuhe. Er überlegte kurz, ein Bad zu nehmen, sah jedoch ein, dass er zu betrunken war. Er würde vermutlich in der Badewanne ausrutschen und sich dabei das Genick brechen, und dann würden die Morde an Charlotte und Kissi nie aufgeklärt werden. Sejr schlingerte ins Schlafzimmer und ließ sich in das schmuddelige Bettzeug fallen. Er schloss die Augen, und sofort drehte sich alles. Kurz bevor er in die schwarze Umarmung des Schlafs glitt, erinnerte er sich an Sivertsens Worte, als er den Trinkkumpan in seine Theorie über die Morde an Charlotte und Kissi eingeweiht hatte. Du musst ihm Angst machen, Brask. Ihm Angst machen, damit er weiß, mit wem er es zu tun hat. Sejr lächelte im Schlaf. Das würde er tun.
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Es war fast zwei Uhr nachts, als Niclas seine Unterlagen zusammenpackte, um zu gehen.
»Danke für heute Abend, es war super, den Fall mit dir durchsprechen zu können«, sagte er und lächelte sie müde an. Sie erwiderte sein Lächeln und begleitete ihn hinaus in die Diele. Er nahm seine Jacke vom Haken und zog sie an, während sie neben ihm stand und ihm zusah. Die Stimmung war plötzlich angespannt. In den letzten Stunden hatten sie sich unbeschwert unterhalten, doch jetzt, wo sie nicht länger über den Fall sprachen, fehlten ihnen die Worte, und die Pausen wurden lang.
»Also, man sieht sich.« Er nickte ihr zu, und sie gab ihm die Hand, bereute es aber sofort, da es so formell wirkte. Doch er griff danach, spürte ihr Zögern und beugte sich vor, um sie zu umarmen. Dabei stießen sie mit Kinn und Stirn zusammen. Beide stöhnten kurz auf vor Schmerz und sahen sich verlegen an, dann war er auch schon durch die Tür, die er hinter sich zuzog. Rebekka sah einen Moment die geschlossene Wohnungstür an, dann ging sie zurück ins Esszimmer, räumte auf und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Als sie endlich im Bett auf den kühlen Laken lag, konnte sie nicht einschlafen, beobachtete im Dunkeln noch lange, wie sich ihre Brüste im Takt mit ihrem Atem hoben und senkten, während sie abwechselnd an Michael und an Niclas dachte.
FREITAG, 17. FEBRUAR 1989
Liebes Tagebuch
Heute bin ich im Unterricht ohnmächtig geworden. Mitten in der Dänischstunde. Mein Lehrer hat einen Krankenwagen gerufen, und man hat mich in die Ambulanz gebracht. Ins Reichskrankenhaus. Ich hasse das Reichskrankenhaus.
Ein junger Arzt hat sich auf meine Bettkante gesetzt und ruhig mit mir gesprochen. Seine Augen haben mich angestarrt, als könnte er direkt durch mich hindurchsehen, meine Gedanken lesen. Das war unangenehm.
»Du kannst sterben, wenn du so weitermachst«, hat er gesagt. Er hat nicht gelacht, das habe ich auch nicht, und seine Worte haben sich in mich hineingebohrt.
Ich bin jetzt zu Hause, liege in meinem Bett.
Ich döse ein wenig, schlafe ein, wache schweißgebadet auf. Ich träume, dass ich schon tot bin. Ich hole
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