Blut für Blut: Thriller (German Edition)
meinen kleinen Taschenspiegel heraus, öffne ihn und atme gegen das Glas. Es beschlägt, und ich weiß, dass ich lebe. Noch.
Søs
FREITAG, 27. JUNI
Die Sonne war bleich und hing wie eine Energiesparlampe am Himmel. Der Platz vor der Esajas-Kirche dagegen war voller Farben – pink, rot, blau, gelb und grün. Jerome hatte ausdrücklich darum gebeten, aus dem Tag eine Huldigung an das Leben zu machen. Kissis brutaler Tod sollte ihre glanzvolle Persönlichkeit nicht überschatten, und deshalb waren die geladenen Gäste in farbenfroher Kleidung erschienen. Die Leute standen in kleinen Gruppen zusammen, einige weinten bereits, aber viele lachten auch, während sie sich an Kissi erinnerten. Ein paar Pressefotografen lungerten am Rand der Versammlung herum und fotografierten diskret die anwesenden Gäste, in der Hoffnung, dass ein oder zwei Prominente unter ihren Freunden waren.
Am Ende der monumentalen Treppe, die in die Kirche führte, standen, flankiert von zwei mannshohen Erzengeln in Granit, die engsten Familienmitglieder – Thomas, Marie-Louise, Jerome und Liam – und begrüßten die Gäste. Marie-Louise grüßte die Leute mit blassem Gesicht, während Thomas laut weinte und jeden einzelnen Gast umarmte. Jerome stand neben seinem Sohn und nickte mechanisch, während Liam an seiner Seite klebte und allen freundlich zulächelte, wobei er hin und wieder zu seinem Lebensgefährten blickte, um zu sehen, ob er zurechtkam.
Rebekka, Reza und Simonsen kondolierten und setzten sich ganz hinten in die Kirche, wo sie die Versammlung gut im Blick hatten. Wenn Kissi ihren Mörder gekannt hatte, und das taten die meisten Mordopfer, nahm der Täter höchstwahrscheinlich auch an der Beerdigung teil. Die Kirche war mit farbenfrohen Blumenarrangements, Kränzen und dicken Kerzen schön geschmückt. Rebekka ließ ihren Blick durch das Kirchenschiff schweifen. Karen Schack kam mit Louis, Marie-Louises Sohn, an der Hand herein und setzte sich in die erste Reihe, wo Fregne, Thomas’ Exfreundin, schon mit der kleinen Nelly saß. Fregne war vom Weinen ganz rot im Gesicht und putzte sich in regelmäßigen Abständen die Nase, während das kleine Mädchen auf der harten Bank zappelig hin und her rutschte. Karen Schack saß mehrere Minuten unbeweglich da und starrte steif vor sich hin. Ihr Mund war angespannt, doch dann flüsterte Louis ihr etwas zu, worauf sie sich ihm zudrehte und ihn anlächelte.
Kasper Rosenstand, Boel Kristensen und Kristine Berg kamen herein und nahmen hinter der engsten Familie Platz. Kristine Berg verbarg das Gesicht in den Händen, ihr Rücken hob und senkte sich, sie war deutlich außer Fassung. Kasper Rosenstand wirkte wie immer, er nickte den Leuten, die er kannte, freundlich zu und schien von der Situation unbeeindruckt. Reza warf Rebekka einen wissenden Blick zu. Boel Kristensen war blasser, als Rebekka sie zuletzt gesehen hatte, und drehte sich regelmäßig um, als würde sie jemanden suchen, während die Kirche sich langsam füllte.
»Na, da kommen ja die Einfaltspinsel.« Simonsen drehte den Kopf den Mitgliedern des Cairnklubs zu, die gerade an ihnen vorbeikamen. Leon Rothenborg, Anne Munk und Margrethe Heinesen bildeten die Vorhut, während Tibor Budzik mit hängenden Schultern und verängstigtem Gesichtsausdruck hinter den anderen hertrottete. »Ihn da, Tibor Budzik«, meinte Simonsen und pfiff leise, »ihn könnte ich mir schon als Täter vorstellen. Ich bin mir sicher, wenn wir ihn uns etwas genauer ansehen, dann …«
Sie wurden von einem lauten Schluchzer von der Tür her unterbrochen. Peter Lindgren und seine Frau Randi waren eingetroffen, und Thomas hatte sich dem Chef seiner Mutter an den Hals geworfen. Sie hielten sich eine Weile umarmt, dann schwankte Peter Lindgren weiter, gestützt von seiner Frau. Rebekka betrachtete ihn, sein Gesicht war aschfahl, und während des Krankenhausaufenthalts hatte er einige Kilo abgenommen. Seine Frau dagegen sah kerngesund aus, sie dirigierte ihn herum, schob ihn erst in die eine Bank, entschied sich dann aber anders und zog ihn mit auf die andere Seite, näher zu Boel Kristensen, Kasper Rosenstand und Kristine Berg hin.
Die Kirche war voll bis auf den letzten Platz. Zwei Kirchendiener in schwarzen Anzügen schlossen mit ruhigen, synchronen Bewegungen die Pforten, und das leise Stimmengemurmel verstummte. Marie-Louise und Thomas schritten langsam durch das Seitenschiff, an einem Bukett nach dem anderen vorbei, gefolgt von Jerome und Liam. Die Stille wurde
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