Blut für Blut: Thriller (German Edition)
einsehen, dass sie letztendlich recht hatte. Er war Alkoholiker. 67 Jahre war er geworden, war er zu alt, um neu anzufangen? Er sehnte sich nach einem kalten Bier und einer Zigarette, nach der vertrauten stickigen Luft des Wirtshauses, während er sich gleichzeitig nach Freiheit sehnte, nach Unabhängigkeit. Verdammt. Sejr schlug fest mit der Hand auf die Bettdecke. Er hörte jemanden vor der Tür und schloss schnell die Augen. Vermutlich war das die Krankenschwester, die mit ein paar Broschüren zurückkam, aber er schaffte es jetzt einfach nicht, sich noch mehr zu einem Entzug anzuhören. Nicht jetzt. Der Gedanke musste sich erst setzen. Die Tür schwang auf, und Schritte näherten sich seinem Bett. Hohe Absätze? Er lag ganz still, atmete kaum, als eine Stimme über ihm sagte: »Vater.«
Vater, Vater, Vater. Das Herz blieb ihm fast in der Brust stehen, und einen Augenblick war er wie paralysiert. Langsam schlug er die Augen auf und blickte direkt in das Gesicht einer Frau in den Vierzigern, die auf ihn hinuntersah. Sie war sonnengebräunt und hatte zahlreiche Lachfältchen um die Augen. Seine Augen. Das gefärbte Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie roch schwach nach Parfüm – und Zigarettenrauch. Ach ja, sie war eben seine Tochter.
»Iben.« Seine Stimme war heiser, kaum hörbar.
Die Frau nickte und biss sich auf die Lippe. Er streckte zitternd die Hände nach ihr aus, und sie griff fest danach, hielt seine Hände in ihren. Sie sahen einander einen Augenblick an, als wollten sie sich den Moment einprägen, um ihn für immer zu speichern, egal, was auch passierte. Plötzlich runzelte sie die Stirn, und er musste sie einfach fragen: »Sehe ich so furchtbar aus?«
Sie lächelte, schüttelte den Kopf und drückte seine Hand.
»Du siehst mir ähnlich, oder vielmehr ich sehe dir ähnlich, das sehe ich trotz all deiner Verbände.«
Sie lachten beide, und Sejr biss vor Schmerzen die Zähne zusammen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du mich sehen willst.«
»Das wollte ich eigentlich auch nicht, aber Mutter hat mich überredet. Sie hat in der Zeitung gelesen, dass ein älterer Kriminalreporter von Ekstra Bladet überfallen worden ist, und sie hat angerufen, um zu hören, ob du das bist. Du warst es, und da hat sie vorgeschlagen, dass ich dich besuche. Meinetwegen.«
Er war in der Zeitung. Sein Herz machte einen Purzelbaum vor Überraschung, und etwas, das an Freude erinnerte, durchströmte seinen Körper. Er merkte, dass er lächelte, und sie sah ihn an, irgendwie abwartend. Er wollte ihr gerne etwas erzählen, das sie freuen würde, etwas, das trotz seiner langjährigen Abwesenheit ihre Zusammengehörigkeit symbolisierte.
»Ich habe mich über das B gefreut, gefreut, dass du es behalten hast. Ich habe es im Telefonbuch gesehen. Das bedeutet mir viel.«
Sejr merkte, wie seine Stimme versagte und ihm die Tränen in die Augen traten, und er versuchte, sie zurückzuhalten. Sie sollte schließlich nicht glauben, dass er rührselig veranlagt war.
»Das B? Ich verstehe nicht, was du meinst.« Sie sah ihn verwirrt an, und er räusperte sich so kräftig, dass sein ganzer Körper wehtat.
»Ich meine nur, dass es mich gefreut hat zu sehen, dass du auch Brask heißt. Brask Winkler. Iben Brask Winkler.«
Die Falten auf ihrer Stirn lösten sich in einem sanften Lächeln, und sie drückte seine Hand ein wenig fester.
»Das tue ich nicht. Das B steht für Bøgeskov. Ich heiße Iben Bøgeskov Winkler. Mein Mann heißt Flemming Bøgeskov, und wir haben unsere Nachnamen als Zwischennamen genommen.«
____
Rebekka massierte sich die schmerzende Kopfhaut, während die Buchstaben auf dem Computerbildschirm vor ihren Augen flimmerten. Sie war nach dem Besuch im Pflegeheim ins Präsidium zurückgefahren, und die Überraschung, dass Kristine Berg die Schwester der ermordeten Charlotte war, saß ihr noch immer wie ein kleiner Schock im Körper. Die anderen Ermittler hatte es auch überrascht, doch hatten sie es als »Zufall des Lebens« abgetan. Brodersen hatte gerade den Kopf zur Tür hereingesteckt und festgestellt, dass sie furchtbar aussah. Sie sollte nach Hause gehen und schlafen. Ein paar freie Tage, um Überstunden abzufeiern, könnte sie auch gut nehmen, wenn sie das bräuchte, hatte er hinzugefügt, bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Und ob sie die brauchte. Sie stützte das Gesicht in die Hände und dachte einen Augenblick an Michael. Sie hatten nur ein einziges Mal miteinander
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