Blut für Blut: Thriller (German Edition)
besucht ihn gerade, und das ist wohl auch ganz gut, weil er so gut wie gar nicht mit Fremden kommunizieren kann. Sie gehört zu den Wenigen, die seine Signale deuten können.«
Sie schritten über den grauen Linoleumboden an nummerierten dunkelgrünen Türen vorbei. Es roch schwach nach Desinfektionsmitteln und Exkrementen.
»Warum lebt er hier? Er ist doch noch nicht so alt.«
Rebekka sah die Frau an, die ihren Blick ernst erwiderte.
»Herr Hansen hat einen auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführenden Hirnschaden und kommt nicht mehr alleine zurecht. Wie ich bereits gesagt habe, kann er fast gar nicht sprechen, kann nicht lesen, schreiben, sich Essen machen oder auf die Toilette gehen. Er wohnt seit drei Jahren hier. Das ist sehr traurig, aber glücklicherweise besucht seine Tochter ihn oft. Viele unserer Bewohner bekommen überhaupt keinen Besuch. So, hier ist es.«
Sie blieben vor Nummer 15 stehen, und die Pflegerin klopfte vorsichtig an die Tür.
Eine Frauenstimme rief herein, und die Pflegerin öffnete die Tür und trat in eine schmale, dunkle Diele mit einer kleinen Teeküche und einer geschlossenen Tür. »Ich bin auf der Toilette, gehen Sie einfach zu Vater hinein«, klang es durch die geschlossene Tür, und sie gingen weiter ins Wohnzimmer. Vor dem Fenster saß ein in sich zusammengesunkener Mann in einem Rollstuhl. Er blickte nicht auf, als sie sich zu ihm hinwandten, sondern starrte mit einem grauen, eingefallenen Gesicht und leeren blauen Augen weiter vor sich hin. Rebekka lief es kalt den Rücken hinunter. Søren Berg Hansen wirkte mehr tot als lebendig. Sie wollte sich gerade vorstellen, als sie hörte, wie hinter ihr die Tür aufging. Sie drehte sich um, um die Tochter zu begrüßen. Vor ihr stand Kristine Berg, Kissis Kollegin aus Lundely . Sie traten beide verblüfft einen Schritt zurück und starrten sich mit der Hand vor dem Mund an. Rebekka fand als Erste die Sprache wieder.
»Kristine Berg? Sie sind Charlottes Schwester? Das ist aber eine Überraschung.«
Kristine stand wie versteinert vor ihr. Sie war leichenblass.
»Das muss man sich einmal vorstellen, dass Sie sich kennen. Die Welt ist doch klein.«
Keiner von ihnen hatte bemerkt, dass die Pflegerin noch immer im Zimmer stand, und Rebekka murmelte schnell etwas Freundliches und schickte sie mit der Bitte hinaus, die Tür hinter sich zu schließen.
»Ich verstehe nicht … Warum sind Sie hier?« Kristine blickte nervös zu Rebekka hoch.
»Ich verstehe sehr gut, dass Sie verwirrt sind. Das bin ich im Moment auch.« Rebekka räusperte sich. »Ich bin hier, weil der Mord an Ihrer Schwester aufgeklärt ist. Der Täter hat gestanden.«
Kristine zuckte zusammen, und im selben Moment stieß Søren Berg Hansen einen durchdringenden, klagenden Laut aus. Kristine eilte zu ihrem Vater, griff nach seiner knochigen Hand und streichelte ihm beruhigend den Arm.
»Ganz ruhig, Vater, ganz ruhig. Du hast gehört, was die Polizistin gesagt hat, nicht wahr? Sie haben Charlottes Mörder gefasst.«
Søren Berg Hansen murmelte irgendetwas Unverständliches, auf das Kristine nicht antwortete. Sie streichelte nur weiter seinen schmalen, bläulichen Arm, und die Geste berührte etwas in Rebekka.
Kristine sah sie mit der Andeutung eines Lächelns an.
»Ich bin so froh, das zu hören. Endlich. Wir warten seit zwanzig Jahren auf Gerechtigkeit.« Sie zögerte einen Augenblick und fügte traurig hinzu: »Es ist nur schade, dass Mutter das nicht mehr erlebt hat. Sie hat jeden Tag ihres Lebens gehofft, dass Charlottes Mörder gefasst wird. Sie hat sich immer wieder gefragt, wer er wohl ist, Tag und Nacht.«
Kristine Berg streichelte ihrem Vater über die eingefallene Wange, und Rebekka sah sie nachdenklich an.
»Sind Sie denn gar nicht interessiert zu erfahren, wer es ist?«
»Natürlich.« Kristine sah Rebekka erschrocken an, während sie hastig hinzufügte: »Wer ist es denn?«
»Leider ist es jemand, von dem ich annehme, dass Sie ihn kennen, nämlich Kissis Sohn Thomas Schack Lefevre.«
Kristine nickte blass, während sie nervös ihre Hände knetete. Rebekka sah sie forschend an. Hatte sie es gewusst?
»Haben Sie Thomas gekannt?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihn manchmal draußen in Lundely gesehen, wenn er Kissi abgeholt hat oder so, aber ich habe ihn nicht gekannt.«
»Er ist übrigens in die Parallelklasse Ihrer Schwester gegangen. Auf dem Falkonergårdensgymnasium.«
»Das habe ich nicht gewusst. Ich bin auf ein anderes
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