Blut für Blut: Thriller (German Edition)
Mitternacht, als sie die Tür zu ihrer Wohnung im Valbygårdsvej aufschloss. Der Kopfschmerz, der den ganzen Tag hinter ihren Schläfen auf der Lauer gelegen hatte, hatte sich verzogen, dafür wurde sie die Bilder der jungen Frauen nicht los, die niedergeschlagen und vergewaltigt worden waren. Sie war nicht mehr müde, die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, sie brauchte gar nicht erst versuchen zu schlafen. Sie öffnete eine Flasche Rotwein, während sie den silbrigen Mond am dunklen Himmel betrachtete, der einen schwachen Lichtkegel durch das große Küchenfenster warf. Von der Küchentür war ein leichtes Kratzen zu hören. Sie nahm an, dass es Tyson war, der hereinwollte. Sie schenkte sich Wein in ein Glas, holte sich etwas Knäckebrot und setzte sich auf ihren üblichen Platz auf der Schlafzimmerfensterbank. Sie sah zum Mond hoch, an dem schnell dunkle Wolken vorbeizogen. Sie trank einen Schluck Wein, zündete die letzte Zigarette aus Dortes Packung an und rauchte genüsslich, während sie ihren Gedanken freien Lauf ließ. Irgendetwas an diesem Tag hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, als sie in Brodersens Büro gesessen hatten, irgendetwas, das ihr bekannt vorgekommen war, aber ihr fiel nicht ein, was es war. Die Müdigkeit meldete sich zurück, und sie gab ihr nach. Weit entfernt registrierte sie das Piepen ihres Handys in der Tasche, eine SMS war eingegangen, aber sie schaffte es nicht aufzustehen und nachzusehen, von wem sie war. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen – sie wollte nur noch schlafen.
____
Rebekka hatte nur wenige Stunden geschlafen, als sie ganz plötzlich wach wurde und sich im Bett aufsetzte. Da war jemand. Sie lauschte mit angehaltenem Atem, zunächst war bis auf das Geräusch ihres hämmernden Pulses alles ganz still, doch dann hörte sie es wieder, ein ganz leises Kratzen. Sie stieg schnell aus dem Bett und schlich in die Diele, während sie sich fieberhaft zu erinnern versuchte, wo sie ihre Tasche mit dem Handy hingelegt hatte. Ein Fußbodenbrett knarrte leicht unter ihrem Gewicht, und sie huschte weiter ins Wohnzimmer. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, und sie erahnte die Konturen der Möbel. Da war niemand. Sie schlich in den Gang und weiter in die Küche und blieb dort einen Moment ganz still stehen. Das Geräusch war verschwunden. Sie ging zum Fenster und spähte in den Garten hinaus, und dort sah sie ihn. Einen Schatten, der schnell zwischen den Büschen zum Bjørnsonsvej hin verschwand. Einen Moment blieb sie unschlüssig stehen und blickte hinaus, alles war so schnell gegangen, dass sie sich, als die Sekunden verstrichen, fragte, ob überhaupt jemand dort gewesen war. Sie schloss die Küchentür auf und sprang die wenigen Stufen der Küchentreppe zu der Tür in den gemeinsamen Garten hinunter. Sie war verschlossen, wie sie feststellte. Sie schloss sie schnell auf und trat in die Dunkelheit hinaus. Sie sah sich im Garten um, der von ein paar hohen Bäumen und dichten Sträuchern gesäumt wurde, und die Bepflanzung kam ihr plötzlich bedrohlich vor, wie ein Hindernis. Einen Augenblick stand sie mit hämmerndem Herzen da und lauschte. Sie hatte gerade beschlossen, wieder hineinzugehen, als sie plötzlich etwas Warmes, Weiches an ihrem Knöchel spürte. Was war das? Rebekka stieß einen erschrockenen Schrei aus, doch dann hörte sie ein klagendes Miau und sah, dass es Tyson war, die Katze der Nachbarn, die um ihre Beine strich. Erleichterung durchströmte sie, und sie lief rasch zurück in die Wohnung, verschloss die Tür, überprüfte, ob die Fenster geschlossen waren, und nahm mit klopfendem Herzen das Handy mit ins Bett.
DONNERSTAG, 25. AUGUST 1988
Liebes Tagebuch
Es ist herrlich, neu anzufangen. Hier kennt mich niemand, niemand kennt meine Geschichte und stellt Fragen – ich kann die sein, die ich sein will.
Ich trage Charlottes Kleider, ihr Lieblingskleid von Nørgaard auf der Strøget, das kunterbunte Tuch von Ixtlan, den lustigen Filzhut mit der großen Schleife vorne. Die Mädchen aus der Klasse finden, dass ich schick aussehe. Die Typen werfen mir interessierte Blicke zu, ich schenke ihnen keine Beachtung.
Ich esse und schlafe nicht mehr. Meine Haut ist blass und durchsichtig, meine Augen sind dunkel und liegen tief in den Höhlen, meine Menstruation hat aufgehört.
Mutter isst auch fast nichts, Vater trinkt nur Rotwein.
Ich sehe mich im Spiegel an, während ich mich frage, wie lange es so weitergehen wird.
Søs
MITTWOCH, 25. JUNI
Rebekka war müde
Weitere Kostenlose Bücher