Blut für Blut: Thriller (German Edition)
sein, meinen wahnsinnigen Arbeitszeiten und nicht zuletzt meinem düsteren Hintergrund Mutter sein könnte?«
»Das kann ich eigentlich ganz gut«, sagte Dorte lächelnd. »Ich weiß ganz sicher, dass du eine wunderbare Mutter sein würdest, solltest du eines Tages Lust bekommen, ein Kind in die Welt zu setzen. Und wenn nicht, dann glaube ich, dass du eine phantastische Polizeipräsidentin sein könntest.«
Sie verabschiedeten sich eine halbe Stunde später mit dem Versprechen, sich für ihr nächstes Treffen nicht so lange Zeit zu lassen und einander auf jeden Fall per SMS oder Mail über ihre jeweilige Situation auf dem Laufenden zu halten.
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Es dämmerte, und Rebekka blieb einen Moment stehen und ließ die neoklassizistische Strenge des Polizeipräsidiums auf sich wirken. Die meisten fühlten sich von dem Koloss eingeschüchtert, doch das Gespräch mit Dorte hatte Rebekkas Stimmung um einiges angehoben, und sie fühlte sich stark und energiegeladen.
»Frohes Schaffen«, murmelte ein älterer Kollege ihr gutmütig zu, und sie nickte freundlich und stieg die Wendeltreppe in die Mordkommission hinauf. Der lange Korridor lag verlassen da, die meisten Türen waren geschlossen. Reza war auch gegangen, er hatte irgendetwas Wichtiges vor, doch er hatte das Thema ganz offensichtlich nicht weiter vertiefen wollen. Vielleicht hatte er eine Freundin? Er erwähnte nie jemanden, und wenn sie das Thema streiften, drückte er sich regelmäßig darum herum.
Rebekka griff nach den Fallakten, durchforstete Seite um Seite, wieder und wieder, auf der Jagd nach etwas Brauchbarem. Sie sah sich die Telefonauswertungen von Kissis Handy und ihrem Festnetztelefon an, in der Hoffnung, dass Simonsen irgendein wichtiges Detail übersehen hatte, doch Kissi hatte mit den Menschen gesprochen, mit denen sie auch normalerweise Umgang pflegte. Rebekka seufzte und griff nach der Patientenakte von Kissis Hausarzt. Kissi war seit über zwanzig Jahren bei dem Arzt Patientin, also schon einige Jahre vor der Scheidung von Jerome. Sie ging die Arztbesuche durch, von denen die meisten vor der Einführung des Computers lagen und die deshalb in einer geschnörkelten Arztschrift festgehalten worden waren, die nur schwer zu entziffern war. Rebekka musste die Augen fest zusammenkneifen, und durch die Anspannung meldeten sich ihre latenten Kopfschmerzen zurück. Sie seufzte, während sie sich durch die zahlreichen Notizen arbeitete. Kissi hatte nichts Ernsthaftes gefehlt. Die jährliche gynäkologische Untersuchung, eine Blinddarmentzündung, ein gutartiger Knoten in der Brust, ein paar Impfungen, hin und wieder eine Halsentzündung. Dafür hatte sie immer wieder einmal mit Depressionen und Schlafstörungen zu tun gehabt, die auch der Grund dafür waren, dass der Arzt ihr Schlaftabletten und Beruhigungstabletten verschrieben hatte. Was hatte die Ermordete deprimiert? Was hatte ihr den Schlaf geraubt? Rebekka legte die Patientenakte zur Seite und sah im nachtschwarzen Fenster ihr Spiegelbild. Das Licht der Schreibtischlampe fiel auf die linke Seite ihres Gesichts, während die rechte im Schatten lag. Ihr Gesicht wirkte, als sei es in der Mitte gespalten. Sie trank ein Glas Wasser, griff nach einem Blatt Papier und begann mit einer operativen Fallanalyse. Sie schrieb Kissi in einen Kreis in der Mitte. Von dem Kreis aus zog sie Striche zu Kissis engster Familie: Jerome, Liam, Karen, Thomas, Marie-Louise, Fregne. Dann weitete sie die Gruppe auf Kissis engste Kollegen aus: Peter, Boel, Kristine, Kasper, und auf die engsten Freunde, zu denen sie unter anderem die Mitglieder des Cairnklubs zählte: Leon, Tibor, Margrethe und Anne. Sie googelte die einzelnen Namen. Fast alle hatten Facebook-Profile, bis auf Kissis Kinder – Thomas und Marie-Louise.
Sie googelte Thomas Schack Lefevre. Er hatte eine Homepage mit einem Foto von sich und einer kleineren Auswahl seiner Gemälde. Sie scrollte die Seite hinunter und fand eine Aufstellung seiner früheren sowie seiner kommenden Ausstellungen. Thomas hatte an mehreren Orten im In-und Ausland ausgestellt. Sie wollte gerade Marie-Louise Schack Lefevre googeln, als sie ein Kratzen hörte. Sie runzelte die Stirn, es war überall dunkel, sie hatte lediglich ihre Schreibtischlampe eingeschaltet. Sie stand auf, schloss das Fenster zur Straße und blieb einen Augenblick still stehen, um zu hören, ob der kratzende Laut noch da war. Das war er nicht, und sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und fuhr mit ihrer Suche
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