Blut im Schnee
„Ist das relevant?“
„Ich weiß es nicht. Sag du es mir.“ Abwartend sah Enrique ihn an und Thorsten konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht so richtig deuten.
„Diese Ehe gehört zu meinem alten Leben, etwas, das ich nicht in den Koffer eingepackt habe, als ich herkam.“
„Aha, und was bedeutet das?“
„Wenn es für dich wichtig ist – bitte. Ja, ich war verheiratet. Vier Monate lang, um genau zu sein. Ich wollte mit aller Macht ‚normal‘ sein. Mein Leben lang habe ich mich selbst betrogen, habe mir vorgemacht, dass die Neigung zum eigenen Geschlecht schon wieder verschwinden würde, wenn ich mich nur genug anstrengen würde. Kathrin kannte ich seit der Grundschule und irgendwann gestand sie mir, dass sie in mich verliebt wäre. Das war etwa ein Jahr, bevor wir dann klassisch vor den Altar traten. Schon in dem Moment kam mir das völlig falsch vor, aber ich habe mich zusammengerissen für den Traum vom normalen Leben. Es wurde aber nicht besser, sondern schlimmer. Nach ein paar Wochen überkam mich regelrechter Ekel, wenn ich mit ihr schlafen musste. Ich bin dann zu einer Beratungsstelle gegangen.“ Thorsten pausierte. Da Enrique nichts erwiderte, sprach er weiter. „Ich habe von dem Mitarbeiter dort regelrecht den Kopf gewaschen bekommen. Ich sah ein, dass ich eine Lüge lebte, die mich irgendwann krankmachen würde. Relativ schnell war ich mir sicher, dass es so nicht weitergehen konnte. Zuerst habe ich mit Kathrin gesprochen und versucht, ihr alles so schonend wie möglich beizubringen. Vermutlich wäre es egal gewesen, mit welchen Worten ich ihr gestand, dass ich mich von ihr trennen würde. Auf gewisse Weise liebte ich sie, aber mehr wie eine Schwester. Es kostete mich Überwindung ihr zu sagen, dass ich schwul bin und nicht so weiter machen könnte.“
Thorsten schloss für einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf, als er an diesen Nachmittag zurückdachte.
„Wie hat sie es aufgenommen?“, erkundigte sich Enrique leise.
„Was glaubst du? Nicht gut, und sie wiederholte andauernd, dass ich doch ihre große Liebe sei und ich sie nicht einfach so abservieren könnte. Sie glaubte mir nicht, dass ich auf Männer stehe und vermutete eine andere Frau dahinter. Ein Wort gab das andere und ich habe ihr auf den Kopf zugesagt, dass ich bei ihr nur noch einen hochbekäme, wenn ich mir vorstellte, dass ein scharfer Kerl vor mir liegt. Dann hat’s gekracht. Es ging so schnell, dass ich gar nicht in Deckung gehen konnte. Ihr Ellenbogen flog in mein Gesicht, meine Nase brach und das Blut floss in Strömen.“
„Ach du Scheiße!“, fluchte Enrique, aber er klang dabei ziemlich belustigt, was Thorsten nicht gefiel. Er griff nach der Schachtel Zigaretten.
„Stört es dich?“, erkundigte er sich.
Enrique verneinte. „Mach nur, es ist dein Haus.“
Thorsten zündete die Kippe an, sog den Rauch tief ein und sprach anschließend weiter. „Wie dem auch sei, anschließend ging es ziemlich schnell. Sie hatte einen Anwalt, der die Eheschließung für nicht rechtmäßig hielt, weil eine schwerwiegende Täuschung von meiner Seite aus vorlag. Nach etwas hin und her wurde die Ehe dann annulliert, wie du vermutlich schon weißt – denn sonst hättest du nicht danach gefragt.“
„Kam das öfter vor, dass sie gewalttätig wurde?“
„Nein! Außerdem war sie mindestens zwanzig Kilo leichter als ich. Der Schlag auf die Nase war halb so wild und passierte einfach. Viel schlimmer war es mit allen anderen. Meine Eltern gaben zu verstehen, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Ein großer Teil meiner sogenannten Freunde wandte sich von mir ab, bis heute sind nur wenige mit mir in Kontakt geblieben. Als ich herkam, begann ein völlig neues Leben für mich.“
„Das glaube ich gerne. Weiß deine Ex-Frau, wo du heute wohnst?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich habe sie nicht wiedergesehen, nachdem alles geklärt war. Sie hat die Wohnung behalten, die ich eingerichtet hatte. Das Einzige, was ich mitnahm, waren meine Papiere und meine Kleidung.“
„Nun, ich muss ehrlich sagen, als ich von deiner Vergangenheit erfahren habe, dachte ich, sie könnte einen Killer engagiert haben.“
Thorsten war froh, dass er dieses Kapitel seines Lebens hinter sich gelassen hatte. Eigentlich dachte er, das Thema wäre längst abgehakt. Das Einzige, was ihm heute noch leidtat, war der Bruch mit seinen Eltern. Gerade jetzt hätte er gerne deren Unterstützung, doch auf die konnte er nicht hoffen. Dass
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