Blut im Schnee
sollte.
Weil ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, setzte er sich ins Auto und fuhr zu Martins Firma – die nun irgendwie seine geworden war, auch wenn er dazu noch nichts Schriftliches gesehen hatte. Die Fahrt über die Grenze war für ihn zur Gewohnheit geworden, auch wenn er Martin nur zwei Mal auf der Arbeit besucht hatte. Beinahe jeder, der hier in der Umgebung wohnte und ein Auto besaß, bevorzugte die günstigen Spritpreise des Nachbarlandes. Wo er schon mal hier war, steuerte er auch eine der vierzehn Tankstellen an, die sich an dieser Straße zwischen Wasserbillig und Mertert befanden. Ein Phänomen, das ihn erstaunt hatte, als er erstmals hier entlang gefahren war. Der steuerliche Unterschied zwischen den Ländern Deutschland und Luxemburg sorgte für eine deutliche Differenz der Preise bei Benzin und Diesel. Zudem war der Kaffee günstiger zu haben und Martin hatte oft welchen mit nach Hause gebracht, wenn er aus dem Büro kam.
Thorsten versorgte sein Auto mit Kraftstoff und betrat den Shop. Die junge Frau an der Kasse grüßte ihn mit einem typischen ‚moien‘. Thorsten bezahlte bei ihr die Tankfüllung und kaufte zum ersten Mal seit Monaten eine Schachtel Zigaretten, die noch immer billiger waren, als in Deutschland. Er kannte das von seinen ersten Wochen, die er hier gewohnt hatte. Der Zigarettenkauf war schließlich überflüssig geworden, nachdem er Martin kennenlernte. Durch ihn hatte er die Qualmerei aufgegeben. Die Kassiererin legte ihm freundlicherweise, neben den obligatorischen Gummibärchen, auch gleich ein Feuerzeug mit dazu.
Am liebsten wäre er zurück nach Hause gefahren, denn vor der Begegnung mit Theresa hatte er etwas Angst. Es war ihm unangenehm, dass diese Frau genauestens über Martins Liebesleben außerhalb ihrer Beziehung informiert war. Dennoch schob er Zigaretten und Feuerzeug in seine Jackentasche und setzte seinen Weg fort. Er hoffte einfach, dass das Gespräch mit Theresa nicht unangenehm verlaufen würde.
Dass er sich in ihr getäuscht hatte, ließ ihn eine Stunde später immer noch lächeln. Theresa war unglaublich freundlich und voller Mitgefühl gewesen. Martins plötzlicher Tod hatte nicht nur für Thorsten alles auf den Kopf gestellt, auch im Büro ging es die ersten Tage drunter und drüber. Dennoch war die Unterhaltung mit ihr beruhigend, da sie ihm versicherte, dass jeder von Martins Mitarbeitern sein Bestes gab, um den Laden am Laufen zu halten. Sie zeigte Thorsten auch die Dokumente, die sie in Martins Auftrag erstellt hatte. Die Kopie des Testaments, die Unterlagen der Versicherung und vorbereitete Papiere, die Thorsten – im Falle von Martins Ableben – als Eigentümer der Firma auswiesen.
Es kam Thorsten fast so vor, als habe Martin einen sechsten Sinn besessen. Anders konnte er sich nicht erklären, weshalb jemand in seinem Alter seinen Nachlass regelte.
Bevor er sich auf den Heimweg machte, gönnte er sich gemeinsam mit Theresa vor der Tür eine Zigarette, die ihn wie erwartet etwas schwindelig werden ließ. Dennoch erfüllte es ihn irgendwie mit Genugtuung, dass er überhaupt wieder damit anfing. Martin zuliebe hatte er die Glimmstängel aufgegeben – und was hatte der für ihn aufgegeben? Fremde Ärsche oder Schwänze jedenfalls nicht.
Als er zurück über die Grenzbrücke fuhr, liefen im Radio die ersten Takte des Liedes Egoist , und Falkos Stimme schallte durch den Innenraum. Irgendwie treffend für Martins egoistisches Verhalten, und doch wieder nicht – dessen Großzügigkeit gegenüber Thorsten passte aus seiner Sicht absolut nicht zu den vielen Bettgeschichten. Er war Martin wohl sehr wichtig gewesen, warum sonst hätte der ihm alles hinterlassen? Anscheinend war Martin ein Meister darin gewesen, Liebe und Sex voneinander zu trennen.
Es dämmerte, als er seinen Wagen die Sickingerstraße hinauf lenkte. Die Reste des Schnees am Rand waren mit schwarzen Schlieren überzogen und auf gewisse Weise erinnerte Thorsten das an seine Gefühlswelt. Er verspürte weiterhin eine tiefe Liebe zu Martin, doch inzwischen lag ein Schleier darüber, der alles trübte.
***
Erneut klingelte Joachims Handy. Die beiden Beamten, die Zimmermann verfolgt hatten, waren diesem durch die Stadt bis zur Basilika gefolgt. Anschließend waren sie ihm erneut durch das Gewühl in der Innenstadt nachgegangen, mit weiteren Zwischenstationen, und bewegten sich nun in Richtung Willi-Brandt-Platz. Der Kollege am anderen Ende der Leitung äußerte den
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