Blut im Schnee
Enrique jetzt seine Vergangenheit ausgrub und Kathrin verdächtigte, fand Thorsten etwas absurd.
„Nein, das traue ich ihr nicht zu. Sie ist eigentlich eine Seele von Mensch, hilfsbereit, zu jedem nett und immer da, wenn man sie braucht. Selbst wenn – allein die Logik spricht dagegen. Oder glaubst du nicht, dass es mich anstelle dieser fremden Männer erwischt hätte?“
„Da stimme ich dir zu. Ich wollte die Geschichte trotzdem aus deiner Sicht hören. Mein Informant hat mir übrigens geflüstert, dass die Ermittler sich nun mit einem religiösen Fanatiker befassen, der als Täter infrage kommen könnte.“
Thorsten zog die Nase kraus. „Was, ein Spinner? Ernsthaft?“
„Ja, der fiel wohl schon ein paar Mal auf, weil er gegen Homosexuelle an predigt und sie als Todsünder abstempelt.“
„Aha, und einer, der so sehr die christlichen Werte verteidigt, soll sich selbst Todsünden auf die Schultern laden, indem er mordet?“ Thorsten nahm den letzten Zug und drückte den Zigarettenstummel im Ascher aus.
„Man weiß es nicht, wer kann schon sagen, was im Kopf eines Verrückten vorgeht? Es gibt eine Homepage von dem Kerl, auf der er die Morde gutheißt und als Willen des Herrn verteidigt.“
„Das ist doch krank!“
„Hmm“, brummte Enrique zustimmend. „Was heißt, er könnte so in seine eigene Welt versunken sein, dass es ihm gleichgültig ist, ob er selbst zum Sünder wird, wenn er tötet.“
„Möglich – aber für mich klingt es ziemlich schräg.“
Enrique lachte laut auf. „Ich fand es ehrlich gesagt auch etwas schräg, als ich von deiner Ehe erfahren habe. Ich habe aber noch etwas Interessantes erfahren.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Die Schwester des ersten Opfers ist in psychiatrischer Behandlung. Nun rate mal, wegen was.“
„Machs nicht spannender als nötig.“
„Die junge Frau wurde, wie ihr Bruder, vom Stiefvater misshandelt. Als Jugendliche wehrten sie sich endlich gegen ihn, zeigten ihn an und er wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach dem ersten Knastaufenthalt hat er die Geschwister aufgesucht und beide krankenhausreif geprügelt. Dafür saß er wieder ein.“
„Und?“ Thorsten sah nicht, worauf Enrique hinaus wollte.
„Nun, nachdem das Urteil verkündet wurde, drehte der Kerl total auf und schwor den Geschwistern, sich zu rächen. ‚Sie würden es schon zu spüren kriegen‘, drohte er ihnen im Gerichtssaal. Und jetzt ist sein Sohn tot. Man lernt viele zwielichtige Gestalten kennen, wenn man einsitzt.“
„Jetzt ist deine These: Der Stiefvater hat den Killer geschickt. Oder wie soll ich das verstehen?“
„So ähnlich. Der Stiefvater ist ein richtiges Ekel. Hat nicht nur die Kinder und die Ehefrau verprügelt, er hat auch auf der Straße Schwule und Lesben angegriffen, sobald ihm welche begegneten. Vielleicht hat der Knast ihm die Birne total verdreht …“
„Na ja, klingt ebenfalls schräg.“
„Sagte ich doch. Aber es ist nicht unmöglich. Zumal der Typ erst seit sechs Wochen raus ist und hier wohnt. Wie der Stiefsohn, der jetzt tot ist.“
„Das alles ist … ein einziges Wirrwarr!“, seufzte Thorsten.
„Eine Herausforderung“, hielt Enrique dagegen.
***
Zimmermann schwieg eisern, seit er auf dem Stuhl saß. Schardt hatte ein Foto von der Schmiererei gemacht, die nun auf dem Bürgersteig prangte: Es ist ein Gräuel – den Tod allen Sündern!
Joachim konnte dem Kerl außer der Sachbeschädigung nichts nachweisen. Leider. Er war sich beinahe sicher, hier den richtigen Mann vor sich sitzen zu haben. Blieb nur die Frage, wie an ihn ranzukommen war, sodass der die Morde gestand.
Birgit war auch noch nicht weitergekommen, da die Liste mit den Angestellten der Klinik noch nicht da war. Folglich konnte Joachim dem Verdächtigen auch nicht die sprichwörtliche Pistole auf die Brust setzen, indem er diesen mit den Gesprächspartnern, die der Einzelverbindungsnachweis von ihm ergeben hatte, konfrontierte. Zumindest konnte Zimmermann nichts weiter anstellen, solange er hier festsaß. Doch das wäre nicht mehr lange, wenn die Ermittler nicht bald handfeste Beweise lieferten, die ihn mit den Morden in Verbindung brachten.
Joachim rieb sich über den Bauchansatz. Sodbrennen plagte ihn – kein Wunder, bei der wenigen festen Nahrung, die er in den letzten Tagen zu sich genommen hatte. Statt dem Schweigenden beim Atmen zuzuhören, beschloss er, sich etwas Essbares zu besorgen und trat die Aufsicht an Michael ab.
***
Enrique
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