Blut muss fließen
nicht erlebt.
Mit diesem Rechercheerfolg im Gepäck machte ich mich auf den Weg ins Hotel. Ich war mir sicher: Diese Geschichte würde mir von den Fernsehredaktionen aus den Händen gerissen werden. Gleich am nächsten Tag rief ich eine BBC-Reporterin an, die in diesen Tagen in Ungarn unterwegs war, weil aufgrund innenpolitischer Spannungen größere Demonstrationen stattgefunden hatten. Der EU-Staat war gerade mal ein Topthema. Was als Nachrichtenfaktor hinzukam: Bei dem Konzert war die britische Band »Section 88« aufgetreten. Diese hatte ich knapp ein halbes Jahr vorher bereits beim Ian-Stuart-Memorial-Konzert in England gefilmt, das Material war noch unveröffentlicht. Ein BBC-Bericht schien mir eine reine Formsache zu sein. Doch weit gefehlt: Die Kollegin hatte kein Interesse.
Noch auf der Rückfahrt traf ich zutiefst frustriert die Entscheidung, meine verdeckten Recherchen in der Nazi-Bewegung zu beenden. Ich hatte schon in den Wochen und Monaten davor darüber nachgedacht und mit mir gerungen. Der Entschluss war mir schwergefallen, weil ich wusste, was es in diesem Sumpf noch alles zu untersuchen und zu enttarnen gegeben hätte. Aber was bringt eine fundierte Videodokumentation, wenn Fernsehredaktionen daran kaum Interesse haben? Rechercheerfolg um Rechercheerfolg geriet zum Angebotsmisserfolg. Ein wirtschaftliches Desaster. Was Ungarn betraf, fand ich in der Panorama-Redaktion des NDR zwar noch einen Abnehmer, aber das änderte an der Medienlage insgesamt nichts und folglich auch nichts an meiner Entscheidung, aufzuhören. Am Wochenende vor der Sendung am 15. März 2007 drehte ich noch ein letztes Konzert, ein SS-Memorial von Blood & Honour in Flandern. Danach fuhr ich nach Hamburg.
Beim NDR ergab es sich, dass das Medienmagazin Zapp einen Tag vor Panorama über meinen Rechercheausstieg und über das Desinteresse der Medien an meinen Themenvorschlägen berichtete. Die Konzertausschnitte im Beitrag waren ein Best-of der ungesendeten Drehs aus den Jahren 2006 und 2007. Während des Beitrags | 308 | soll sich die Einschaltquote von Zapp ungefähr verdoppelt haben, wie mir am nächsten Tag gesagt wurde.
Ich merkte an den Zuschauerreaktionen, die beim NDR eingingen, auf welches Interesse meine Erkenntnisse und Einschätzungen stießen. Denn ich hatte erstmals ein Interview gegeben, was ich bis dato aus Sicherheitsgründen abgelehnt hatte. Die Nazis wussten nun, dass all die Einsätze mit versteckter Kamera, über die sie sich im Internet ereifert hatten, auf mein Konto gingen. Weitere Drehs schienen ab sofort undenkbar zu sein. Mein Unterbewusstsein hatte meine Entscheidung bereits verinnerlicht: Ich bekam keine Albträume mehr.
Aufgrund der Zuschauerresonanz entstand die Idee, einen Dokumentarfilm über meine Recherchen zu fertigen. Da sich kein Sender fand, der das finanziert hätte, ging der Filmemacher Peter Ohlendorf in Vorleistung. Und weil sich weiterhin kein Sender fand, der Interesse gehabt hätte, geriet das Vorhaben zum wirtschaftlichen Wahnsinn, was sich auf die Produktionsdauer auswirkte. Deshalb entschied ich mich – wohlwissend, wie unprofessionell und verdammt gefährlich das war -, nochmal mit der versteckten Kamera loszuziehen. Und das im Laufe der Jahre immer wieder, wenn auch nicht mehr so häufig wie vor 2007. Weil ich mit der Arbeit gedanklich abgeschlossen gehabt hatte und um das zusätzliche Risiko wusste, fielen mir diese Drehs noch viel schwerer als die früheren. Aber es half alles nichts: Ich musste erstens aktuelles Videomaterial beschaffen und zweitens auf dem neuesten Informationsstand bleiben. Am 16. Februar 2012 durften wir Peter Ohlendorfs Film »Blut muss fließen« – Undercover unter Nazis auf der Berlinale präsentieren – und anschließend habe ich dieses Buch geschrieben. Auch kurz vor Redaktionsschluss, im August 2012, war ich noch einmal undercover in der Rechtsrockszene unterwegs.
Die Auswirkungen des Abschlussprogramms meiner Recherche sind unangenehm: Wenn ein Undercover-Rechercheur in einem Film, in einem Fernsehtalk oder vor Kinopublikum auftritt, dann ist das die berufliche Bankrotterklärung. Bisherige und – theoretisch – künftige Zielpersonen solcher Recherchen erfahren dadurch trotz Pseudonym und optischer Tarnung immer ein paar Details, die zu einem Mosaik | 309 | zusammengesetzt werden und im schlimmsten Fall zur Enttarnung führen können. Hätte ich meine inhaltlichen Erkenntnisse über die vorangegangenen Jahre hinweg nicht nur
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