Blut - Skeleton Crew
substanzlos machte – sie war kein menschliches Wesen mehr, sondern nur noch die Bleistiftskizze eines menschlichen Wesens, gezeichnet auf dem weißesten Papier der Welt – und niemand sagte ein Wort. Einen Moment lang war es ebenso wie bei den Buchstaben des Schildes RECHTS FAHREN, die im Leeren zu schweben schienen – ihre Arme und Beine und ihre hellblonden Haare waren verschwunden, und nur die verschwommenen Konturen ihres roten Sommerkleides schienen im weißen Nichts zu tanzen. Dann wurde auch ihr Kleid vom Nebel verschluckt und immer noch sagte niemand ein Wort.
4. Der Lagerraum. Probleme mit dem Generator.
Was dem Botenjungen zustieß
Billy wurde hysterisch, bekam einen Wutanfall, heulte und schrie heiser und fordernd nach seiner Mutter, als wäre er plötzlich wieder zwei Jahre alt. Seine Oberlippe war mit Rotz beschmiert. Ich legte den Arm um ihn, führte ihn einen der Mittelgänge entlang und versuchte ihn zu beruhigen. Ich ging mit ihm an der langen weißen Fleischtheke vorbei, die die ganze hintere Längswand des Supermarktes einnahm. Mr. McVey, der Metzger, war noch da, und wir nickten einander zu – das Einzige, was wir unter diesen Umständen tun konnten.
Ich setzte mich auf den Boden und nahm Billy auf den Schoß. Ich drückte sein Gesicht an meine Brust, wiegte ihn hin und her und redete leise auf ihn ein. Ich erzählte ihm all die Lügen, die für Kinderohren so plausibel klingen, und ich brachte sie hundertprozentig überzeugend vor.
»Das ist kein gewöhnlicher Nebel«, sagte Billy. Er sah zu mir auf. Seine Augen standen voller Tränen und waren von dunklen Ringen umgeben. »So ist es doch, Daddy?«
»Nein, ich glaube nicht.« In diesem Punkt wollte ich ihn nicht belügen.
Kinder kämpfen nicht gegen einen Schock an wie Erwachsene; sie lassen sich einfach treiben, vielleicht weil Kinder bis zum dreizehnten Lebensjahr sich ohnehin ständig in einer Art halbem Schockzustand befinden. Billy begann einzudösen. Ich hielt ihn in den Armen und befürchtete, er könnte wieder aufwachen, aber er fiel stattdessen in tiefen Schlaf. Vielleicht war er in der letzten Nacht teilweise wach gewesen, als wir zu dritt in einem Bett geschlafen hatten – zum ersten Mal, seit Billy ein Kleinkind gewesen war. Und vielleicht – bei diesem Gedanken überlief mich ein kalter Schauder – vielleicht hatte er gespürt, dass etwas passieren würde.
Als ich mir sicher war, dass er fest schlief, legte ich ihn auf den Boden und begab mich auf die Suche nach etwas, womit ich ihn zudecken konnte. Die meisten Leute standen immer noch vorn und starrten in die dicke Nebeldecke hinaus. Norton hatte eine kleine Gruppe von Zuhörern um sich geschart und faszinierte sie mit seiner Redekunst – oder versuchte es zumindest. Bud Brown harrte eigensinnig auf seinem Posten aus, aber Ollie Weeks hatte seinen Platz verlassen.
Einige Leute wanderten wie Gespenster in den Gängen umher; ihre Gesichter waren bleich und vom Schock gekennzeichnet. Ich begab mich durch die große zweiflügelige Tür zwischen der Fleischabteilung und der Bierkühlung in den Lagerraum.
Der Generator dröhnte gleichmäßig hinter seiner Sperrholztrennwand, aber etwas stimmte damit nicht. Dieselgestank stieg mir in die Nase, und er war viel zu stark. Ich ging auf die Trennwand zu, nur noch flach atmend. Zuletzt knöpfte ich mein Hemd auf und zog mir einen Teil davon über Mund und Nase.
Der Lagerraum war lang und schmal und wurde von zwei Notlampen schwach beleuchtet. Überall stapelten sich Kartons – Waschpulver auf der einen, Kisten mit alkoholfreien Getränken auf der anderen Seite der Trennwand, daneben aufgeschichtete Packungen Beefaroni und Ketchup. Einer war heruntergefallen, der Pappkarton schien zu bluten.
Ich klinkte die Tür in der Zwischenwand auf und näherte mich dem Generator. Er war in ölige blaue Rauchwolken gehüllt. Das Auspuffrohr führte durch ein Loch in der Mauer ins Freie. Das äußere Ende des Rohres musste durch irgendetwas verstopft sein. Ich entdeckte einen einfachen Ein-/Ausschalter und betätigte ihn. Der Generator stockte, rülpste, hustete und erstarb. Dann verstummte er mit einer abschwellenden Reihe keckernder Geräusche, die mich an Nortons störrische Motorsäge erinnerten.
Die Notlichter erloschen, und ich stand im Dunkeln. Ich erschrak und verlor völlig die Orientierung. Mein Atem hörte sich an wie ein Wind, der im Stroh raschelt. Ich stieß beim Hinausgehen meine Nase an der dünnen
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