Blut - Skeleton Crew
die Abzugsklappe richtig ein. Einen Augenblick – nur einen Augenblick – hatte sie in der Kohlenglut das Gesicht ihrer alten Freundin Annabelle France gesehen. Es war haargenau ihr Gesicht gewesen, bis hin zu dem Grübchen in der Wange. Hatte auch Annabelle ihr zugewinkt?
Sie überlegte, ob sie Alden einen Zettel schreiben und ihm erklären sollte, wohin sie gegangen war, aber dann dachte sie, dass Alden es vermutlich auch so verstehen würde, auf seine eigene langsame Weise.
Während ihr Verstand immer noch Sätze für diesen Zettel formulierte – Seit dem ersten Wintertag habe ich mehrmals deinen Vater gesehen, und er sagt, sterben sei nicht so schlimm; zumindest glaube ich, dass es das ist, was er mir sagen will … – trat Stella in den weißen Tag hinaus.
Der Wind stürzte sich sofort auf sie, und sie musste Aldens Mütze noch etwas tiefer ziehen, damit der Wind sie ihr nicht stehlen und nur so zum Spaß davontragen konnte. Die Kälte schien durch jede kleinste Ritze ihrer Kleidung tief in sie einzudringen; feuchte Märzkälte, die nassen Schnee ankündigte.
Sie ging den Hügel hinab, in Richtung Bucht. Behutsam setzte sie ihre Füße auf die Ziegel, mit denen George Dinsmore in Abständen den Pfad ausgelegt hatte. Einmal hatte George auf dem Festland Arbeit gefunden: er sollte für die Stadt Raccoon Head mit dem Motorpflug pflügen, aber während des großen Sturms im Jahre 1977 hatte er sich mit Whisky so volllaufen lassen, dass er dann nicht nur einen, auch nicht zwei, sondern gleich drei Strommasten über den Haufen gefahren hatte. Fünf Tage lang hatten die Leute drüben in Raccoon Head kein Licht gehabt. Stella erinnerte sich jetzt wieder daran, wie sonderbar es gewesen war, über die Meerenge hinweg zu blicken und auf der anderen Seite nur Dunkelheit zu sehen. Man war so sehr daran gewöhnt, drüben die kleine tapfere Lichtergruppe zu sehen. Jetzt arbeitete George nur noch auf der Insel, und nachdem es hier keine Motorpflüge gab, konnte er nicht viel Unheil anrichten.
Als Stella an Russell Bowies Haus vorbeiging, sah sie die totenblasse Missy aus dem Fenster schauen. Stella winkte ihr zu. Missy winkte zurück.
Sie hätte ihren Urenkeln erzählen können:
»Auf der Insel haben wir uns immer selbst um alles gekümmert. Als Gerd Henreid sich damals den Blutgefäßriss in der Brust zugezogen hatte, aßen wir alle einen ganzen Sommer lang zum Abendessen nur einfachen Eintopf, um seine Operation in Boston bezahlen zu können – und Gerd kehrte lebendig auf die Insel zurück, Gott sei Dank. Als George Dinsmore jene Strommasten über den Haufen fuhr und die Stromwerke sein Haus pfänden wollten, sorgten wir dafür, dass sie ihr Geld bekamen, und dass George genügend Arbeit hatte, um sich Zigaretten und Schnaps kaufen zu können … warum auch nicht? Nach Feierabend taugte er sowieso für nichts anderes, aber wenn er erst einmal angekurbelt war, schuftete er wie ein Ackergaul. Dass er jenes eine Mal in Schwierigkeiten geraten war, hatte nur daran gelegen, dass er abends arbeiten musste, und der Abend war für ihn eben die Zeit zum Trinken. Sein Vater hat ihn jedenfalls immer durchgefüttert. Und jetzt ist da die arme Missy Bowie, die mit fünf Kindern allein zurückgeblieben ist. Vielleicht wird sie doch hierbleiben und ihr Geld von der Fürsorge und von der Hilfsorganisation ADC bekommen; es wird höchstwahrscheinlich nicht ausreichen, aber sie wird hier jede Hilfe erhalten, die sie braucht. Vermutlich wird sie weggehen, aber wenn sie auf der Insel bleibt – verhungern wird sie hier keinesfalls … und hört gut zu, Lona und Hal: Wenn sie hier auf der Insel bleibt, wird sie vielleicht imstande sein, etwas von dieser kleinen Welt mit der schmalen Meerenge auf der einen Seite und der unendlich breiten Meerenge auf der anderen Seite zu bewahren, etwas, was sie nur allzu leicht verlieren könnte, wenn sie in Lewiston mit Essenstellern oder in Portland mit Kuchen oder im »Nashville North« in Bangor mit Drinks herumhasten muss. Und ich bin alt genug, um nicht wie eine Katze um den heißen Brei herumzuschleichen, was dieses Etwas sein könnte: eine Existenzform, eine Lebensweise – ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.«
Sie hatten hier auf der Insel die Dinge immer selbst in die Hand genommen, auch in anderer Hinsicht, aber das hätte sie ihren Urenkeln nicht erzählt. Die Kinder hätten es nicht verstanden, auch Lois und David nicht – Jane hatte allerdings die Wahrheit noch
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