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Blut - Skeleton Crew

Blut - Skeleton Crew

Titel: Blut - Skeleton Crew Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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vergangene Woche an Herzschlag gestorben war. Ganz plötzlich, hatte Bill gesagt, als er Hal per Ferngespräch benachrichtigt hatte. Als ob er das wissen konnte! Als ob überhaupt jemand das wissen konnte! Sie war allein gestorben.
    »Ja«, sagte Hal. »Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen.«
    Sie blickten beide auf das Haus, in dem sie aufgewachsen waren, das einst ihr Zuhause gewesen war. Ihr Vater, ein Seemann bei der Handelsmarine, war einfach verschwunden wie vom Erdboden verschluckt, als sie noch klein waren; Bill behauptete, sich verschwommen an ihn zu erinnern, aber Hal hatte keinerlei Erinnerung an ihn. Ihre Mutter war gestorben, als Bill zehn und Hal acht gewesen war. Tante Ida hatte sie mit einem Greyhoundbus von Hartford hierhergebracht, und hier waren sie groß geworden, von hier aus waren sie aufs College gegangen. Nach diesem Ort hatten sie Heimweh gehabt. Bill war in Maine geblieben und hatte jetzt eine florierende Anwaltspraxis in Portland.
    Hal sah, dass Petey auf die Brombeerhecken an der Ostseite des Hauses zuschlenderte, die dort einen dichten Filz bildeten. »Bleib von dort weg, Petey«, rief er.
    Petey drehte sich um und warf ihm einen fragenden Blick zu. Hal spürte, wie sehr er den Jungen liebte … und plötzlich musste er wieder an den Affen denken.
    »Warum, Daddy?«
    »Irgendwo dort hinten ist der alte Brunnen«, erklärte ihm Bill. »Aber ich weiß ums Verrecken nicht mehr, wo. Dein Vater hat recht, Petey – am besten bleibst du dort weg. Die Dornen könnten dich sonst übel zurichten. Stimmt’s, Hal?«
    »Stimmt«, sagte Hal automatisch. Petey entfernte sich, ohne einen Blick zurückzuwerfen, und rannte die Uferböschung hinab, auf den schmalen Kiesstrand zu, wo Dennis Steinchen über das Wasser hüpfen ließ. Hal wurde es etwas leichter ums Herz.
     
    Bill mochte vergessen haben, wo der alte Brunnen war, aber Hal bahnte sich am Spätnachmittag mit untrüglicher Sicherheit einen Weg dorthin, durch die Brombeersträucher, die an seinem alten Flanelljackett rissen und nach seinen Augen zu greifen schienen. Schwer atmend stand er dann vor dem Brunnen und betrachtete die verzogenen, halbverfaulten Bretter, die ihn bedeckten. Nach kurzem Zögern kniete er nieder (zwei Pistolenschüsse schienen in seine Knie zu fahren), und schob zwei der Bretter beiseite.
    Vom Grunde dieses nassen, steinummauerten Halses starrte das Gesicht eines Ertrinkenden zu ihm empor, mit weit aufgerissenen Augen und zur Grimasse verzerrtem Mund. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Es war nicht laut, außer in seinem Herzen.
    Es war sein eigenes Gesicht im dunklen Wasser.
    Nicht das des Affen. Einen Moment hatte er geglaubt, es wäre das des Affen.
    Er zitterte. Zitterte am ganzen Leibe.
    Ich habe ihn in den Brunnen geworfen. Ich habe ihn in den Brunnen geworfen, bitte, lieber Gott, lass mich nicht verrückt sein, ich habe ihn in den Brunnen geworfen.
    Der Brunnen war in jenem Sommer ausgetrocknet, als Johnny McCabe starb, ein Jahr nachdem Bill und Hal zu Onkel Will und Tante Ida gekommen waren. Onkel Will hatte einen Kredit bei der Bank aufgenommen, um einen artesischen Brunnen bohren zu lassen, und die Brombeersträucher hatten den alten gegrabenen Brunnen zugewuchert. Den ausgetrockneten Brunnen.
    Jetzt war das Wasser wieder da. Ebenso wie der Affe.
    Diesmal ließ sich die Erinnerung nicht verdrängen. Hal saß hilflos da, überließ sich ihr, versuchte ihr zu folgen, sie zu reiten wie ein Surfer eine Monsterwelle, die ihn zerschmettert, wenn er vom Brett fällt, nur versuchte sie zu überwinden, damit er sie hinter sich brachte.
     
    Er war im Spätsommer jenes Jahres mit dem Affen hierhergekrochen, und die Brombeeren hatten einen sehr starken, fast schon übelkeiterregenden Duft verbreitet. Niemand kam hierher, um sie zu pflücken; nur am Rande des Dickichts blieb Tante Ida manchmal stehen und sammelte einige davon in ihre Schürze. Hier drinnen waren die Beeren aber schon überreif, manche faulten sogar und schwitzten eine dicke weiße Flüssigkeit aus wie Eiter, und die Grillen zirpten nervtötend im hohen Gras ihren endlosen Ruf: Rüüü…
    Die Dornen rissen an ihm, kratzten ihm die Wangen und die nackten Arme blutig. Er versuchte nicht, den Dornen auszuweichen. Er war blind vor Entsetzen gewesen – so blind, dass er nur Zentimeter an den verfaulten Brettern über dem Brunnen vorbeistolperte, möglicherweise nur Zentimeter an einem Sturz vo1n zehn Metern zum schlammigen Grund des Brunnens

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