Blut und Harz
Erik war froh, dass der Rabe jetzt auf seiner Seite stand und nicht mehr auf der Gegnerischen.
»Genug gelabbert!« knurrte Alexander. »Du behandelst nun deinen Freund und dann sind wir auch schon wieder weg. Verstanden?«
Ruppert Hawelka nickte plötzlich eifrig. »Was ist überhaupt passiert?« fragte er.
Erik seufzte tief und ließ sich im Wohnzimmer angekommen auf einen hölzernen Stuhl mit hoher Lehne sinken. »Ein Ast hat uns erwischt. Er brach von einem Baum ab und traf uns vollkommen unvorbereitet. Er hat mich hier und hier getroffen.« Erik deutete auf seine Brust und die blutige Stirn.
Ruppert trat näher heran und besah sich die immer noch Blut spuckende Wunde.
Erik fuhr fort: »Immer wieder habe ich einen stechenden Schmerz in meiner Brust. Mir wird schwindelig und …«
Ruppert horchte auf. »Das hört sich alles andere als gut an. Es könnte alles Mögliche sein. Von inneren Verletzungen und Blutungen bis hin zu einem Herzinfarkt. Damit ist nicht zu spaßen. Und die Platzwunde muss dringend genäht werden. Du musst ins Krankenhaus!«
»Unmöglich! Wir müssen Natalja befreien«, stöhnte Erik, als Ruppert vorsichtig an seiner Stirn die Wunde mit den Fingern begutachtete. »Ich kann mich jetzt nicht stundenlang in die Klinik legen. Kannst du die Wunde nicht hier nähen?«
»Nein«, entgegnete der Arzt entschieden. »Ich habe alles Nötige dafür in meiner Praxis. Aber was meinst du mit befreien? Ist sie eingesperrt?« Verwirrt starrte Ruppert zwischen Alexander und Erik hin und her. Seine Finger ruhten noch auf dem blutigen Fleisch.
»Ja und nein. Sie wurde entführt und wir haben keine Zeit zu verlieren. Deswegen fahren wir nun alle zusammen in Ihre Praxis.« Der Rabe deutete auffordernd zum Ausgang. »Los geht’s!«
»So?« Ruppert blickte entgeistert an sich selbst hinab auf den karierten Pyjama und seine nackten Füße, die in den Birkenstock steckten. Dann schüttelte er den Kopf.
Alexander trat erneut drohend auf Ruppert zu und verzog den Mund verärgert. »Im Flur habe ich Turnschuhe und Jacken gesehen«, grollte er. »Damit werden Sie schon nicht erfrieren!«
Der Arzt schluckte schwer, dann ergab er sich in sein Schicksal.
Zwei Minuten später saßen sie in Eriks Wagen, den Alexander aus der Einfahrt lenkte.
»Könnte mir jemand verraten, was vorgefallen ist? Ich soll euch mitten in der Nacht behandeln, was gegen jede Vernunft spricht, ihr redet wirres Zeug von einer Entführung und einem Ast. Ich möchte wenigstens wissen, auf was ich mich hier einlasse!«
Ruppert saß auf dem Rücksitz und schob bei seinen Worten den Wuschelkopf zwischen den Vordersitzen so weit nach vorne, wie es nur ging. Die mit Cashmere gefütterte Jacke, so weich wie die Sünde selbst, die sich Ruppert hastig beim Gehen übergestreift hatte, füllte den Zwischenraum fast vollständig aus.
Erik und Alexander wechselten einen kurzen Blick. Erneut stach ein flammender Schmerz durch Eriks Brust, ließ ihn zusammenzucken.
Alexander übernahm das Wort: »Sie sind sowieso bereits ein Mitwisser, also spielt es keine Rolle mehr, wie viel Sie wissen.«
»Mitwisser?« fragte Hawelka. »Wovon?«
»Dem Waldkloster«, antwortete Erik durch zusammengebissene Zähne. »Ich habe dir vor einigen Tagen davon erzählt. Erinnerst du dich?«
Ruppert nickte. Was er anschließend aus Alexanders Mund erfuhr, trieb ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht. Wie ein ausgebleichter Sandsack ließ er sich in den Rücksitz fallen, nachdem Alexander seinen knappen Abriss der Geschehnisse beendet hatte.
»Das kann ich einfach nicht glauben!« sagte der Arzt mehr zu sich selbst. »Das ist doch verrückt!« Auf die Worte verfiel Ruppert in brütendes Schweigen.
»Dort ist die Praxis!« rief in diesem Moment Erik und deutete auf eine dunkle, leere Einfahrt.
Kurz darauf betraten die drei Männer schweigend, angeführt von Ruppert, die still daliegende Arztpraxis.
»Kein Licht vorerst!« raunte Alexander, als Hawelka den Lichtschalter betätigen wollte. Dieser zog achselzuckend den Arm zurück und lenkte sie anschließend durch den finsteren Flur, vorbei an den sonst prächtig erleuchteten Bildern bis zu seinem Behandlungszimmer. Erst dort schaltete er das weiße Neonlicht an.
Ohne Umschweife warf er seine Jacke über eine Garderobe, neben der eine prächtige Birkenfeige stand, öffnete zielstrebig einen weißen Schrank und holte allerlei Fläschchen, Tücher und für Erik unbekanntes Arbeitsgerät hervor. Aber Erik wollte es auch gar
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