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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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seiner vollen Größe. Sein brauner Vollbart war akkurat gepflegt und ging direkt in das dichte Kopfhaar über, das nach hinten gekämmt war. Mit seiner tiefen, brummigen Stimme meinte er: »Es freut mich, dass ihr alle gekommen seid. Es ist mir wie jedes Jahr eine große Ehre, euch als meine Gäste kulinarisch zu verwöhnen. Lange Rede, kurzer Sinn: Lasst es euch schmecken! Greift zu!«
    Er lachte dröhnend, während er sich beherzt die ersten zwei Scheiben Braten auf den Teller schaufelte. Danach fassten alle an die üppige Tafel, Teller füllten sich, Weinbecher leerten sich. Die Gespräche waren flach. Smalltalk vom Feinsten. Aber was hätte diese bunt zusammengewürfelte Gruppe schon miteinander reden sollen. Alexander ließ, während er auf einem Stück knuspriger Brotrinde kaute und einer Anekdote Oliwias lauschte, den Blick durchs Zimmer gleiten.
    In der Ecke stand ein prächtiger, mattgrüner Tannenbaum, der mit goldenen Kugeln und Glöckchen geschmückt war. Darüber hing glänzendes Lametta, das von einer weiteren Lichterkette beschienen wurde. Daneben erstreckten sich die großflächigen, altehrwürdigen Fenster, die von dunkelblauen Vorhängen eingerahmt wurden. Alexander warf einen kurzen Blick hinaus in die weihnachtliche Dunkelheit, doch er konnte nur huschende Schatten erkennen. Der Schneefall hatte also nochmals zugelegt.
    Dann kehrte seine Aufmerksamkeit zurück zu seinem Teller und der wartenden Fleischportion, die in der dunklen Bratensoße schwamm.
    Sergei waren Alexanders forschende Blicke scheinbar nicht entgangen, denn er schlug seinem Enkel hart zwischen die Schulterblätter. »Wenn du deine Geschenke suchst, Junge, musst du noch etwas warten. Bescherung gibt es erst nach dem Dessert.«
    Alexander grinste breit. »Ich weiß. Ich hatte nur gehofft die Titten einer der beiden Bedienungen nochmals zu sehen.«
    Sergei blickte ihn verdutzt unter seinen buschigen Augenbrauen an, dann brüllte er vor Lachen. »Wenn du dir heute Nacht eine nehmen willst, nur zu. Sie werden auch dafür bezahlt.«
    Alexanders Grinsen wurde noch breiter. Er hatte es doch geahnt, dass die beiden Katalogpüppchen nicht nur zum Teller hereintragen engagiert worden waren.
    Eines der Fenster splitterte in tausend Scherben. Lub-dub-dub-dub-dub-dub-dub. Gefolgt von der zweiten und der dritten Scheibe. Lub-dub-dub-dub-dub-dub-dub. Winzige Splitter regneten auf den weichen Teppich, dazu mischte sich eisige Luft, nasse, schwere Schneeflocken und zischende Kugeln. Das Feuer im Kamin flackerte wild.
    Dann schlug das erste Geschoss etwa auf Brusthöhe an der gegenüberliegenden Wand ein. Holzsplitter wurden aus der Vertäfelung gerissen und surrten durch die Luft. Weitere Einschläge folgten, bildeten eine schnurgerade Reihe, die sich mit rasanter Geschwindigkeit den Gästen nährte. Lub-dub-dub-dub-dub-dub-dub. Alexander reagierte instinktiv.
    Er stieß sich mit aller Kraft nach hinten ab, ließ den Stuhl kippen und ging das Risiko ein, hart auf dem Boden aufzuschlagen. Aber er würde auf dem Teppich landen, der seinen Sturz dämpfen würde. Während er zu Boden fiel, traf ihn irgendetwas hart am Hinterkopf. Das Bild vor seinen Augen wurde schwarz.
    Als Alexander wieder stöhnend zu sich kam, konnte nicht viel Zeit vergangen sein. Vielleicht einige Sekunden. Trotzdem bot sich ihm ein Anblick blanken Chaos und Entsetzens.
    Er lag auf dem Fußboden neben dem Tisch. Auf der Seite. Sein Blick auf Beinhöhe. Vor ihm ein Stuhl, geöltes Holz und dunkelroter Überzug, darunter liegt ein zerbrochener Teller mit einer Scheibe Rinderbraten und knackigem Gemüse. Die Bratensoße war über den Teppich gespritzt und hatte braune, schmierige Flecken hinterlassen. Daneben liegt eine ältere Frau, Oliwia, mit dem Kopf zu ihm gedreht. Er blickt zwischen den Stuhlbeinen hindurch, hinweg über die tote Scheibe Fleisch. Die Haushälterin starrt ihn an, auf ihrem Gesicht der Ausdruck von ungläubiger Überraschung. Sie starrt unentwegt, blinzelt kein einziges Mal. Das Doppelkinn bewegt sich nicht. Dann fällt sein Augenmerk auf das rechte Auge von Oliwia, das keine zwei Zentimeter über dem Boden schwebt. Dort ist aber kein Auge, nur ein leeres Loch, aus dem Blut auf den Teppich sickert. Oh Gott! Oliwia! Arme Oliwia! Warum? Es tut mir so leid! Lub-dub-dub-dub-dub-dub-dub. Wieder das wummernde Geräusch. Dazu das kreischende Schreien von Menschen, wahrscheinlich Kamil, die beiden Bedienungen, Paulina und Zuzanna. Lub-dub-dub-dub. Einige Schreie

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