Blut und Harz
wohltuender Ruhe in diesen schnelllebigen Zeiten.
Reimund hoffte, dass er hier an diesem Abend eine Antwort auf seine Fragen finden würde. Immer wenn er Antworten brauchte, kam er an diesen stillen Ort. Hier war er ungestört, konnte denken und jemanden um Rat fragen.
Etwa in der Mitte des Hains ragte eine uralte Eiche über einem kleinen Teich auf, dessen Wasser wie ein schwarzer Spiegel ruhte. Nicht einmal ein einziges, welkes Blatt trieb darin. Die Borke der Eiche war grau wie erkaltete Asche, mit grünem Moos bewachsen, die Blätter immer noch saftig, aber mit ersten gelblichen Stellen durchzogen. Der Herbst kündigte sich an und das auch im Hain des Klosters. Der emeritierte Abt des Stiftes hatte ihm erzählt, dass dieser Baum der Älteste von allen hier war, und Reimund glaubte es. Der Stamm war ausgebeult, knorrig, gebückt. Man brauchte mindestens die Hälfte der Klosterbrüder, um den Baum zu umfassen, wenn man sich Hand an Hand nahm. Teilweise erstreckten sich breite Risse durch die Rinde, doch der Baum würde noch einige Jahrhunderte überdauern. Vielleicht sogar länger.
Reimund fand den alten Mann, den alle Brüder liebevoll Vater nannten und den er als Abt abgelöst hatte, unter der Eiche auf einem fleckigen Stein sitzen. Der Alte hatte die Beine überschlagen und die Augen geschlossen. Er meditierte, wie so oft, seit er nicht mehr die Leitung des Klosters innehatte.
Mehrere Jahrhunderte Humus bedeckten den Boden und dämpften Reimunds Schritte, als er näher trat. »Vater«, flüsterte er leise, um den Mann nicht bei seiner Gedankenreise zu erschrecken.
Dieser wandte langsam den Kopf, während sich seine Augen behäbig öffneten wie bei einer Schildkröte. Sein Blick war aber sofort klar und nicht verträumt. »Raphael«, sagte er. Er klang förmlich, aber gleichzeitig warm und herzlich. »Führen dich wieder Sorgen an diesen Ort?«
Reimund nickte. Immer fragte der Alte das. »Ja, Vater. Ein ernsthaftes Problem, das bald gelöst werden muss, führt mich hierher.« Dabei lehnte er sich an die raue Rinde, von der der Duft nach stechendem Harz ausströmte. »Ich suche Antworten.«
Der alte Mann musterte ihn ausgiebig. Minuten vergingen, wo keiner etwas sagte. Dann meinte er: »Du ringst um eine Entscheidung. Ich sehe es Dir an, Sohn. Du bist zerrissen zwischen deinem Verstand und deinem Herzen.«
»Ja«, räumte Reimund ein. Woher der Alte die Wahrheit wusste, fragte er sich schon lange nicht mehr. »Ich sollte nach meinem Verstand urteilen, doch mein Herz weigert sich, diese Entscheidung zu akzeptieren.«
Der emeritierte Abt legte die Stirn in tiefe Furchen. »Du musst lernen, für das Wohl der Bruderschaft zu entscheiden. Was dir dein Herz sagt, spielt dabei keine Rolle. Alleine unser Fortbestand zählt.«
»Ich weiß«, gab Reimund ihm Recht. Die Wahrheit dieser Worte jagte ihm einen Schauer über den Rücken, ließ ihn innerlich erzittern, doch gleichzeitig wusste er, dass er nicht anders konnte. Er musste sich so entscheiden.
Der alte Mann nickte zufrieden. »Dann hast du also deine Entscheidung getroffen.«
Reimund seufzte tief. »Ja, Vater.«
Ein mildes Lächeln glättete die Gesichtszüge des alten, abgelösten Abtes. »Dann setz dich noch etwas zu mir und leiste einem verdatterten Greis ein wenig Gesellschaft.«
Reimund tat, wie ihm geheißen. Mit gekreuzten Beinen ließ er sich auf den mit abgestorbenen Nadeln übersäten Boden gleiten. Sein Blick glitt starr auf den stillen Teich, der im schwindenden Licht bereits wie ein Fenster in die dunkelste Nacht aussah.
Dann saßen die beiden ungleichen Männer schweigend nebeneinander, die Bäume raschelten leise, hin und wieder knarrte ein Ast, bis irgendwann der Alte wieder das Wort ergriff.
»Nun geh und kümmere dich um dein Problem«, drängte er. »Es muss gelöst werden und du hast für heute lange genug den Frieden des Waldes genossen.«
»Was ist mit dir«, fragte Reimund. »Willst du zurück in deine warmen Räumlichkeiten? Es wird langsam kalt. Komm, ich begleite dich.«
Der Mann in den waldfarbenen Roben schüttelte nur sachte den Kopf. »Nein mein Sohn, mir ist noch nicht nach engen Mauern und stickiger, staubiger Luft. Ich bleibe noch etwas hier.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Du musst nicht warten. Ich finde den Weg schon selbst.«
Reimund erwiderte nichts mehr. Schweigend berührte er kurz das eisige Wasser, benetzte damit seine Lippen und ließ den Mann alleine bei seinem Teich, den Bäumen und seinen
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