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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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sein Kind zu Grabe tragen. Noch war es aber nicht so weit.
    Erik überkam ein weiterer Heulkrampf, der ihn in die Hocke zwang. Er hustete, er zitterte, er keuchte, er weinte. Heiße Tränen, die in seinen gereizten Augen brannten, liefen über seine Wangen. Seine Hände stützten sich auf der eisigen Grabplatte ab, hinterließen zwei verschmierte Handabdrücke in der makellosen Tröpfchenfläche. Als der Anfall abebbte, blieb Erik flach atmend vor dem Familiengrab sitzen.
    Maria! Es tut mir so leid! Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen! Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er sich vor den Wagen wirft. Ich hätte besser auf mich selbst aufpassen müssen. Verzeih mir, Maria! Ich bin an allem schuld. Ich!
    Erik schniefte leise. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, machten ständige Kehrtwendungen. Ihm wurde leicht schwindlig. War er wirklich schuld? Hätte er irgendetwas ändern können? Er hätte nicht auf die Straße rennen dürfen, doch Elias hätte er nie davon abhalten können, ihn zu retten. Was würdest du dazu sagen, Maria? Du würdest mich in den Arm nehmen, du würdest mich trösten, mir gut zureden. Du würdest sagen, dass ich nicht Schuld an dem Unfall bin. Der dicke Nebel, das leise Elektroauto, die ganzen Umstände seien schuld. Zu gerne würde ich dir glauben, Maria. Zu gerne.
    Erik erhob sich. Seine Knie knackten dabei, doch das Geräusch wurde vom trüben Nebel verschluckt.
    Bitte verzeih mir Maria, falls er es nicht schafft! Verzeihst du mir? Ja? Vielleicht, aber kann ich mir dann auch selbst verzeihen?
    Erik schüttelte traurig den Kopf, dann machte er auf dem Absatz kehrt. Er konnte das Grab nicht länger ertragen. Es war, als starre er in Marias leuchtende Augen, die ihn tadelnd zurechtwiesen, warum er sich Vorwürfe machte. Langsam trottete er durch den Nebel davon. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn Elias sterben sollte. Aber der Gedanke war so befremdlich, dass er es nicht weiterdenken konnte. Nicht wollte. Elias würde es schaffen. Die Ärzte würden ihn hinbekommen. Die heutige Medizin konnte doch alles. Mit Geld konnte man Vieles bewerkstelligen. Auch eine so schwere Verletzung? Halswirbelfraktur? So lautete die erste Diagnose der Mediziner. Sie hatten Elias sofort notoperiert und anschließend ins künstliche Koma versetzt. Der gesamte Ablauf war nur geisterhaft an Erik vorbeigezogen. Eine wirre Bildercollage, Eindrücke, Geräusche, Wortfetzen. Wie wenn Picasso ein Bild der Geschehnisse gemalt hätte. Nichts war so, wie es sein sollte.
    Irgendwann hatte ihn der Chefarzt, ein Mann mit polierter Glatze, nach Hause geschickt.
    »Gehen Sie nach Hause, Herr Ritter. Ruhen Sie sich aus.« Er könne für seinen Sohn momentan sowieso nichts tun. Natalja hingegen weigerte sich. Sie würde bleiben. Sie hatte sich keinen Zentimeter aus dem Krankenhausflur und von den weißen Plastikstühlen entfernt. Sie war in eine Schockstarre verfallen, blass, fast nicht ansprechbar, apathisch. Aber sie würde dort bleiben. Ihre Antwort war auch nur ein Nicken auf die Frage des Arztes gewesen. Erik hatte ihr daraufhin eine Flasche stilles Mineralwasser aus einem glänzenden Automaten gekauft, es ihr in die Hände gedrückt und war daraufhin nach Hause gefahren. Er hatte etwas gegessen, aufgewärmtes Pilz-Risotto mit Zucchini und ordentlich Zwiebeln, und hatte es keine zwei Minuten später wieder erbrochen. Ein Glas Wein, zwei Beruhigungstabletten und eine Zigarre hatten ihn daraufhin wieder so weit ins Leben geholt, dass er rudimentär die Ereignisse realisiert hatte. Dann hatte er einsam und verlassen in seinem Wohnzimmer hyperventiliert. Eine kurze, aber heftige Panikattacke. Als sich das Kribbeln in seinen Lippen, die verkrampften, zum Körper gezogenen Hände und sein verklärter Blick wieder normalisiert hatten, war er zitternd hierher gefahren, zu Maria. Er hatte Trost gesucht. Er war mit seinen Kräften am Ende. Jetzt würde er wieder direkt ins Krankenhaus steuern. Was sollte er schon daheim tun? Alleine in dem verwaisten Haus? Erneut an einem Angstanfall zusammenbrechen? Auch wenn er in der Klinik nichts für Elias tun konnte, vielleicht würde sein Sohn spüren, dass er da war. Dass er an seiner Seite saß, dass er seine Hand hielt.
    Erik blickte sich um. Er hatte die Orientierung auf dem weitläufigen Gelände verloren. Der Nebel war noch undurchdringlicher geworden. Man konnte gerade bis zum nächsten Baum sehen, die sich hin und wieder zwischen dem Meer aus grauen, tristen Grabsteinen

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