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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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schon ganz anders getroffen. Die Eltern dieses zehnjährigen Jungen zum Beispiel. Erik schluckte. Fast schleichend bog er zwei Mal nach rechts ab und erreichte endlich das Zimmer 213. Auf dem Namensschild stand in Druckbuchstaben: Elias Ritter.
    Für einen langen Augenblick blieb er dort stehen, fürchtete sich.
    Dann fasste er sich ein Herz und klopfte leise, wartete aber keine Antwort ab, sondern trat unverzüglich ein, bevor ihn der Mut wieder verließ.
    Elias lag unverändert auf seinem Krankenbett. Daneben stand ein Stuhl, auf dem Natalja saß. Ihr Kopf ruhte neben Elias rechter Hand auf dem Rand der Matratze, sie hatte die Augen geschlossen. Scheinbar war sie eingeschlafen.
    Ein Lächeln huschte über Eriks Gesichtszüge. Er musste seine Meinung von Natalja grundsätzlich revidieren. Auch wenn er sie anfangs für eine schlechte Partie für seinen Sohn gehalten hatte, so musste er sich nun doch eingestehen, dass sie eine fürsorgliche und zärtliche Freundin war. Sie liebte seinen Sohn über alles. Er sah es an ihren Bewegungen, ihrer Zuneigung und ihren Blicken, die sie Elias täglich entgegengeworfen hatte und immer noch tat. Spätestens ihr jetziges Verhalten räumte alle Bedenken aus dem Weg. Was war wohl im Leben mehr wert, fragte er sich: Eine liebevolle Floristin, die hinter einem stand oder eine geldgeile Juristin, die einen beim ersten Problem fallen lassen und wegen des Ehevertrags verklagen würde? Erik wusste die Antwort. Gleichzeitig fragte er sich, wie er so egoistisch hatte sein können, für seinen Sohn anders zu entscheiden, andere Maßstäbe anzusetzen. Für Elias galten doch die gleichen Regeln wie für ihn selbst.
    Leise seufzend trat er an das Bett heran. Lange stand er da, den Blick auf seinen schwer verletzten Sohn gerichtet. Eine dicke Halskrause, außen mit gelochtem Plastik verstärkt, lag straff um seinen Hals. Schläuche steckten in seiner Nase, in seinem linken Arm und verschwanden unter der wärmenden Decke, die ihn bis zur Brust bedeckte. Eine graue Klammer verdeckte seinen Zeigefinger. Daran hing ein blauer Schlauch und aufgeklebte Binden. Die Haut war fahl. Sie glänzte blass im schwindenden, matten Licht des Tages. Etliche Schürfwunden und Kratzer zierten seine Wange, seine Stirn und seinen Arm. Bläuliche Blutergüsse waren zu erkennen, die sich in wenigen Tagen grün verfärben würden. Elias Augen lagen in dunklen, tiefen Höhlen. Sein Atem ging flach, aber beständig. Die Anzeige auf dem aufgestellten Monitor zeigte Elias konstanten Herzschlag an.
    Warum, fragte sich Erik. Warum hatte es ausgerechnet Elias getroffen? Warum konnte er nicht dort liegen anstelle seines Sohnes? Er würde zu gerne tauschen. Das Leben war einfach so unfair! Manche beschenkte es mit allen Annehmlichkeiten, die man sich nur vorstellen konnte und andere kratzten am Rande des Abgrunds herum, krepierten hilflos oder litten Jahrzehnte. Erneut kullerte eine Träne über seine Wange, als er seinen verletzten Sohn betrachtete. Sie tropfte hinab, landete genau auf Nataljas Hand. Diese zuckte unter der feuchten Berührung zusammen, hob verwirrt den Kopf und blickte sich mit aufgequollenen Augen um.
    »Alles ist in Ordnung. Du bist eingeschlafen«, sagte Erik mit sanfter Stimme. Natalja nickte, als sie seine Worte begriff. Sie richtete sich ganz auf. Ihr Haar war zerzaust, strähnig.
    »Wie geht es ihm?« fragte sie leise.
    »Scheinbar unverändert. Ich hatte gehofft, von dir Neuigkeiten zu erfahren. Aber wir müssen uns wohl einfach gedulden.«
    Erneut nickte die blonde Russin. Sie rieb sich mit den Handrücken beide Augen. »Wie spät ist es? Ich muss wohl länger gedöst haben.«
    »Es ist kurz nach 16 Uhr«, antwortete Erik.
    »So früh erst? Oh Gott. Dann haben wir noch zwei Stunden bis der Chefarzt wieder vorbeikommt. Vielleicht schaut vorher noch eine Schwester rein, aber was Neues erfahren wir frühestens heute Abend.« Natalja zögerte einen Moment. »Erik, kann ich … die nächsten Tage … weiter bei dir wohnen?« Ihre Stimme klang flehentlich bittend und bitter zugleich. Erik kannte diesen Unterton von sich selbst. Er hasste es, Schwäche einzugestehen. Jemanden um Hilfe bitten war nichts anderes, als dies zu tun. Man zeigte Schwäche. Natalja tickte scheinbar genauso wie er.
    »Ich kann jetzt nicht nach Stuttgart fahren. Ich werde hier bei Elias bleiben«, fügte sie noch hinzu.
    »Natürlich«, entgegnete Erik sofort. »Das ist doch selbstverständlich. Wenn ich sonst noch etwas für dich tun

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