Blut und Harz
kann, dann sag es einfach.«
Natalja lächelte dankbar für einen Moment, dann erhob sie sich. Sie streckte sich wie eine Katze, bewegte die vom Schlafen steifen Schultern. Für einen Moment wirkte sie noch mehr wie Laura. Ein heftiger Schmerz durchzuckte Eriks Brust.
»Wo hast du eigentlich unsere Reisetaschen hin?« fragte sie. »Ich habe das Ganze nicht mehr mitbekommen. Nicht, dass die noch vor dem Bahnhof stehen.«
»Nein, die Taschen habe ich abgeholt und die liegen im Kofferraum meines Wagens. Wenn wir später zurück fahren, helfe ich dir beim ausladen.«
Als er den Kofferraum seines Wagens erwähnte, blitzte eine Erinnerung auf.
»Ach Natalja, vielleicht könntest du mir einen kleinen Gefallen tun. Ich war vorhin noch bei einer Gärtnerei und habe einen Blumenstock gekauft. Der steht im Kofferraum. Hab ihn dort vergessen. Kannst du ihn vielleicht holen? Dir etwas die Beine vertreten? Der Wagen steht unten auf dem Parkplatz.«
Fragend runzelte Natalja die Stirn.
»Für was hast du einen Blumenstock gekauft?«
Erik seufzte tief. »Es ist eine Zimmerzypresse. Eine von Elias Lieblingspflanzen. Zumindest hat er mir das einmal erzählt, wenn ich mich recht erinnere. Ich dachte, er freut sich, wenn er hier aufwacht und seine Lieblingspflanzen sieht.«
Ein freudiges Strahlen huschte über Nataljas Gesicht. »Das ist eine super Idee. Er wird sich bestimmt darüber freuen. Ich hoffe, du hast eine schöne Pflanze gekauft.«
Erik zuckte nur mit den Schultern und reichte ihr den Wagenschlüssel. »Keine Ahnung. Ich kenne mich mit dem Grünzeug nicht aus. Da bist du die Fachfrau. Der Mercedes steht in der zweiten Reihe. Du kennst ja den Wagen. Sollte die Pflanze nicht passen, hau ich sie dem Gärtner um die Ohren.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie grinste. Das erste Mal seit dem schweren Unfall. »Brauchst du sonst noch was aus dem Auto, wenn ich schon gehe?«
»Du könntest Elias Reisetasche mitbringen, wenn sie dir nicht zu schwer ist. Dann hat er hier wenigstens Klamotten und frische Unterwäsche. Ansonsten nur die Zypresse aus dem Kofferraum.«
Natalja nickte, dann verschwand sie aus seinem Blickfeld. Die Zimmertüre klackte leise. Gleichzeitig legte sich die Stille einer Grabkammer über den Raum. Es war viel zu still für Eriks Geschmack. Nur das beständige Piepen der Apparaturen ertönte, erinnerte an die schrecklichen Verletzungen seines Sohnes, an das künstliche Koma.
Endlich alleine! Erschöpft ließ sich Erik auf den Stuhl fallen. Das Polster war noch warm von Nataljas Körper. Mit bebenden Fingern ergriff er sanft die bleiche Hand seines Sohnes. Die Haut war kalt und fahl, doch darunter spürte er die Wärme des Lebens. Mit der anderen strich er sich durch die wirren Haare.
»Bitte wach auf! Elias, hörst du mich? Bitte! Tu es für Maria.«
Elias antwortete nicht. Unbeweglich lag er da. Still, scheinbar schlafend. Erneut überkam Erik ein Gefühl von Machtlosigkeit. Er konnte nichts tun. Er war hilflos. Er wollte heulen, doch keine Tränen kamen hervor. Sie waren für heute alle versiegt, zu viel hatte er geweint.
»Bitte Elias!« flüsterte er heiser. »Wach wieder auf. Schon der Gedanke, dass jeder Augenblick dein letzter sein könnte, macht mich wahnsinnig. Ich kann nicht jede Sekunde hier sein, doch ich müsste, falls … falls …« Er drückte die Hand seines Sohnes fester. »Bitte komm zurück zu uns. Wir brauchen dich alle. Bitte! Wir lieben dich!«
***
Die Herbstluft war eisig. Sie kroch durch die feinen Maschen ihres Strickpullovers und fühlte sich klamm und feucht an. Natalja fröstelte es. Sie beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte gedacht, dass die frische Luft ihre Müdigkeit vertreiben würde, doch dass es nun so kalt war, war ihr nicht bewusst gewesen. Sie sehnte sich nach ihrer warmen, kuscheligen Fleecejacke, die in Elias Zimmer an der Garderobe hing. Wahrscheinlich lag die Kälte auch an mangelnden Kalorien. Sie hatte seit dem Unfall nichts mehr gegessen und nur Wasser und eine Coke getrunken. Sie würde sich nachher noch irgendetwas Essbares in der Cafeteria des Krankenhauses besorgen.
Seufzend wechselte sie die leuchtend hellgrüne Zimmerzypresse in den anderen Arm. Elias Reisetasche wanderte ebenfalls eine Hand weiter. Wenigstens hatte Erik was Ordentliches gekauft. Kein gakeliges Etwas, was man so gern in Baumärkten angedreht bekam. Elias würde sich gewiss darüber freuen.
Hinter den Glastüren schlug ihr die ersehnte Wärme entgegen. Während sie sich die
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