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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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Arme so gut es ging an den Oberkörper presste, stapfte sie an der verlassenen Empfangstheke vorbei. Ein gelber Zettel hing davor. Darauf stand: Bin in 10 Minuten wieder da. Gut, dachte Natalja. Somit würde schon niemand wegen der Pflanze fragen.
    Unbeirrt eilte sie in den zweiten Stock. Sie nahm das Treppenhaus, um sich mehr Bewegung zu verschaffen und um ihren Kreislauf anzuregen.
    Kurz darauf betrat sie wieder Elias Zimmer. Die Szene war unverändert, nur dass Erik auf dem Stuhl neben dem Bett saß. Er zwinkerte ihr zu, als er sie eintreten sah.
    Eigentlich war Erik Ritter gar nicht so verkehrt, wie Elias immer behauptet hatte. Ja, er war ein harter Mann, der wuchtige Ellbogen besaß und sich wie ein richtiger Kerl durchsetzen konnte. Er schreckte vor nichts zurück, wenn es um das Erreichen seiner Ziele ging. Er zeigte keine Schwäche. Genau wie sie selbst. Sie war zwar in Deutschland aufgewachsen, aber in ihren Adern floss trotzdem das kühlere Blut des Ostens. Sie stammte von einem härteren Schlag Menschen ab. In ihrer Heimat war man stark. Dort blieben die Schwachen auf der Strecke zurück. So waren die Gesetze nun mal.
    Natalja stellte die pyramidenförmige Zypresse neben das Krankenbett. Die prall gefüllte Reisetasche landete neben dem Einbauschrank. Dann betrachteten sie beide schweigend und für lange Zeit den verletzten Elias. Jeder hing seinen ganz eigenen Gedanken hinterher.
    Tiefe Traurigkeit durchfuhr unvermittelt ihren Körper, als sie die ganzen Schläuche und Fläschchen sah. Ihr ganzes bisheriges Leben war kein Zuckerschlecken gewesen. Sie wuchs zwar im reichen Deutschland auf, fernab von Krieg und Atomunfall, doch was bedeutete das schon? Ihre Mutter Darja Orlow konnte nur wenige Brocken Deutsch. Oft hatte sie ihr helfen müssen. Geld besaßen sie ebenfalls fast keines. Die Sozialhilfe reichte gerade für den aktuellen Monat, aber sie mussten an allen Ecken und Enden sparen. Am meisten an Heizung und Essen. Aber irgendwie hatten sie es geschafft. Natalja hatte die mittlere Reife problemlos absolviert und auch ihre Ausbildung mit Bravour bestanden.
    Trotzdem war es hart gewesen, alleine in einer fremden Kultur, nur mit einer Mutter, die so gut wie nie die winzige Wohnung verließ, da sie nichts verstand und ohne Vater, der im entfernten Gomel langsam an den Folgen von Tschernobyl dahinsiechte. Nur in ihrer Arbeit mit den stummen Pflanzen und Blumen und in ihrer Beziehung mit Elias war sie selbst wie eine wunderbare Rose aufgeblüht. Und nun? Nun lag ihr Schatz schwer verletzt vor ihr auf der Schwelle des Todes. Wie sollte das Ganze enden?
    Die schwere Melancholie drohte sie zu einem Heulkrampf zu zwingen, doch Natalja beherrschte sich. Ihre Hände ballten sich dabei zu Fäusten. Vor Erik Ritter wollte sie nicht weinen. Nein. Vor ihm würde sie keine weitere Schwäche zeigen.
    »Darf ich dich etwas fragen?« Seine Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Sie blickte von Elias auf.
    »Ja, natürlich.«
    »Wie habt ihr euch eigentlich eure Zukunft vorgestellt? Wollt ihr … ich meine, wollt ihr in Stuttgart bleiben? Elias wird sofort abweisend, wenn ich dieses Thema anspreche. Versteh mich nicht falsch. Ich habe keine Hintergedanken, wie er immer meint. Es interessiert mich einfach. Vor allem jetzt. Vielleicht muss er die erste Zeit gepflegt werden. Wer weiß. Hier hätten wir die Mittel dazu. Wie ist es überhaupt mit deiner Arbeit? Kannst du die nächste Zeit so ohne weiteres fehlen?«
    Natalja antwortete nicht. Stattdessen trat sie schweigend an den Schrank heran und begann die obersten Klamotten, die Elias in die Reisetasche gestopft hatte, in die Regale zu räumen. Ein anthrazitfarbener Jogginganzug war dabei. Eine Winterjacke. Karierte Boxershorts.
    Der weiche Stoff erzeugte ein Gefühl von Machtlosigkeit in ihren Fingern. Alles fühlte sich so nach Elias an und was konnte sie machen? Zusehen und warten, bis er krepierte!
    Hilflos verstaute sie die letzte Unterhose und trat dann mit bebenden Fäusten an das Fenster neben dem Bett heran. Sie konnte von ihrem Standpunkt den Parkplatz erkennen. Schemenhaft und nebulös. Alles in milchiges Grau getaucht.
    »Entschuldige, wenn ich das falsche Thema angesprochen habe. Ich wollte dir nicht … zu nahe treten.«
    Natalja schüttelte den Kopf. »Nein Erik, das ist schon in Ordnung. Es ist nur schwer über unsere geplante Zukunft zu reden, wenn … wenn Elias so dort liegt.« Ihre Stimme zitterte. Ihr Blick war weiterhin in den Nebel gerichtet. Zwei gelbe

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