Blut und Harz
konnte, so wie sie es im Kindergarten beim Versteckspielen immer getan hatte. Nur würde ihr hier etwas Anderes blühen, wenn man sie erwischte. Hoffentlich würde die Deckung ausreichen. Die Tür zum Büro knarzte in den Angeln. Ihr Herz pochte wie ein Hammer auf dem Ambos.
»Dou verreckscht.«
Eine tiefe, bayrische Stimme brummte durchs Zimmer. Erneut knackende Glasscherben. »Da war wohl Anner schneller. Hat er scho gekriegt, was er verdient hat.« Die Worte kamen langsam, lallend. Der herbe Geruch nach Bier und Wodka verbreitete sich.
Natalja wagte einen Blick aus ihrer Deckung heraus Richtung Fenster. In der Scheibe spiegelte sich die Gestalt eines breitschultrigen Mannes. Er wirkte blass und müde, nahezu grell vor der dunklen Wand. Dunkle Augenringe untermahlten den Eindruck. Ein ungepflegter Vollbart schattierte seine Wangen, die Haare standen struppig und strähnig vom Kopf ab. Sie meinte, den Mann zu erkennen. Nur woher?
Der Mann drehte sich just in diesem Moment einmal um die eigene Achse. Plötzlich wusste Natalja woher sie ihn kannte.
Sie hatte ihn in der Zeitung gesehen. Bei einem Artikel über den Hausbrand vor einigen Tagen. Es musste der Waldbauer Kühnle sein.
Dieser blickte sich immer noch unschlüssig um, doch zum Glück nicht in ihre Richtung. In der Linken hielt er eine blaue Brechstange, in der Rechten einen honiggelben Kanister. Er pfiff die Luft durch die Zähne.
»Geschieht dir Recht! Verrecken sollst!«
Der stechende Geruch nach Benzin erfüllte wenig später das Büro. Natalja atmete flach, hielt sich weiterhin auf den Boden gedrückt. Sie versuchte, ihre Bronchien unter Kontrolle zu halten, doch der penetrante Geruch verursachte einen kratzenden Hustenreiz. Nicht jetzt, betete sie. Sie durfte nicht husten! Sie musste durchhalten.
Schritte entfernten sich. Kühnle war aus dem Büro verschwunden, doch sie hörte ihn immer noch klar und deutlich. Hin und wieder gluckste ein leises Plätschern von Flüssigkeiten. Dazu das schwere Atmen des Waldbauern, das aus dem Vorraum drang.
Ihr war klar, was der Mann vorhatte. Ihr würde wenig Zeit bleiben. Sie musste raus aus dem Gebäude und zwar schleunigst. Die Geräusche wurden leiser, entfernten sich, verstummten. Stille regierte für eine halbe Minute über die Räumlichkeiten, dann wallte ein schauderhaftes Rauschen durch den Raum, gefolgt von lautem Knistern. Eine Hitzewelle rollte ihr entgegen.
Obwohl Natalja geahnt hatte, was passieren würde, war sie darauf nicht gefasst. Es war wie mit alten Familienangehörigen, von denen man wusste, dass sie bald sterben würden, doch wenn es so weit war, überraschten einen die Neuigkeiten kalt und eisig.
Blitzartig sprang sie aus ihrem Versteck auf. Jetzt würde Stille nichts mehr nützen. Gelber Feuerschein schlug ihr entgegen, tauchte das verwüstete Zimmer in warmes Licht. Flackernde Flammen züngelten ihr entgegen, verwandelten die Türe, den einzigen Ausgang, in ein glühendes Portal zur Hölle.
Natalja musste fliehen.
Sie musste diesem Inferno entkommen!
Die Flammen schlugen lachend noch höher.
***
Erik atmete erleichtert durch. Er hatte sich einen Aufschub erfochten. Fünf Minuten! Besser als nichts. Die erste Hürde war genommen. Jetzt musste er nur noch den Raben irgendwie von seiner Theorie überzeugen, von der er selbst nicht alles wusste. Ein Spiel mit dem Feuer. Er hoffte einfach auf sein Improvisationstalent. Irgendetwas würde ihm schon einfallen, wie er den Mann umstimmen konnte.
»Ich muss etwas ausholen, aber sonst werden die Zusammenhänge nicht klar. Dieser Mann«, Erik deute zum dritten Mal auf die Fotografie, »heißt Reimund Schell. Zumindest hieß er früher so. Jetzt heißt er nur noch Bruder Raphael und ist Abt des Waldklosters. Reimund und ich waren früher die besten Freunde. Wir gingen zusammen zur Schule, wir feierten zusammen, wir lernten zusammen, wir soffen zusammen und … «, Erik zögerte einen Moment, doch im Angesicht des Todes war eine Lüge die schlechteste Wahl » … und wir haben zusammen eine junge Frau umgebracht.«
Die Worte waren ausgesprochen. Der Mörder, der ihn gleich richten würde, war nun der erste Mensch, der von ihrer grausigen Vergangenheit erfuhr. Das Geheimnis war kein Geheimnis mehr. Nach 33 Jahren war es ausgeplaudert. Die unfassbaren Worte erzeugten aber nur wenig Reaktion auf dem harten Gesicht des Killers. Er zog eine Augenbraue kritisch nach oben. Ihre makellose Form verspottete Erik regelrecht. Trotzdem unterbrach er ihn
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