Blut und Harz
Sauerstoff. Der Balrog witterte seine letzte Chance, bevor sein Opfer entkam. Er brüllte wütend.
Kurz bevor Natalja sich an der messerscharfen Bruchkante des Fensterrahmens die Rippen aufschlitzte, ließ sie den Sessel los und bremste ihren Sturz mit dem Ellbogen ab. Wie durch ein Wunder schnitt sie sich dabei nur leicht in den rechten Unterarm. Das stechende Ziehen bemerkte sie nur beiläufig, das warme Blut nur durch die Nässe. Ihre Lungen brannten stärker vom Qualm, als dass sie andere Schmerzen gespürt hätte.
Vorsichtig kletterte sie durch das gesplitterte Fenster. Sie achtete trotz der Hitze in ihrem Rücken akkurat auf die rasiermesserscharfen Kanten. Wenn sie sich jetzt die Pulsadern aufschnitt, wäre sie zwar den Flammen entkommen, würde aber im rettenden Innenhof verbluten.
Ein Blumenbeet raschelte unter ihren Füßen und sie versank zentimetertief im lockeren Humus, als sie vom höher gelegenen Fenster in den Innenhof hinunter glitt.
Feuchte, winterfrische Luft umfing sie wie Balsam, floss wohltuend in ihre Bronchien. Keuchend atmete sie mehrmals tief ein, sog den rettenden Sauerstoff in die Lungen; dazwischen hustete sie mehrmals braunen Dreck hervor, spuckte ihn zwischen die niederen Beete und den ramponierten Bürostuhl.
Dicker Rauch waberte aus dem zerstörten Fenster über ihr, füllte nun beständig den eingeglasten Innenhof.
Als sich der Hustenanfall gelegt hatte, wankte Natalja zum plätschernden Brunnen. Das kalte Wasser bitzelte stechend auf ihren geschundenen Händen, doch sie brauchte die Erfrischung. Erst jetzt merkte sie, dass sie kleine Schnittwunden an den Fingern davongetragen hatte. Keuchend schöpfte sie eine Handvoll Nass über ihr verschwitztes Gesicht, rieb sich Asche, Schweiß und Qualm von der Haut.
Das zweite Mal heute, dachte sie dabei erschöpft. Erneut war sie auf der Schwelle des Todes gestanden und war ihm im letzten Augenblick von der Schippe gesprungen. Vielleicht hatte sie doch mehr Glück als sie dachte; oder einen verdammt guten Schutzengel.
Doch sie durfte sich nicht in Sicherheit wiegen. Noch war sie nicht aus der Gefahrenzone heraus.
Hecktisch sah sich Natalja genauer im Innenhof um.
Zwei Seiten waren mit Glas verkleidet, dahinter die milchige Suppe des Nebels. An der dritten Seite des quadratischen Hofes grenzte ein anderes Bürogebäude an, das baugleich wie Eriks Gebäudeflügel errichtet war. Erik vermietete es an einen örtlichen Spediteur, der dort seine Logistik abwickelte. Natürlich arbeitete das Unternehmen hauptsächlich für Erik.
Ihr Blick glitt nach oben. Das mit Chrom gepaarte Glasdach hatte sich bereits mit schwarzem Qualm gefüllt, der immer weiter nach unten sickerte. Natalja suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Ein kleines Schild zu ihrer Linken leuchtete gerade noch durch den trüben Rauch. Grün und weiß zeigte es einen Notausgang an. Natalja bekreuzigte sich dankend, dann eilte sie durch den Innenhof auf das Exit-Schild zu.
Die Luft draußen war noch kühler, beinahe genauso kalt auf ihrer feuchten Gesichtshaut wie das Brunnenwasser, doch nach der Hitze gerade richtig. Sie fischte ihr Handy aus der Jackentasche, wählte eine kurze Nummer.
»Notruf, Feuerwehr und Rettungsdienst, Grüß Gott.«
»Es brennt. Kommen Sie schnell! Das Büro von Erik Ritter steht in Flammen!«
»Erik Ritters Büro, sagen Sie? Wo brennt es denn genau?« Die Stimme gehörte einem Mann, war souverän und strahlte Gelassenheit aus.
»Innen im Erdgeschoss. Die Räume brennen lichterloh. Beeilen Sie sich! Die Adresse weiß ich nicht.«
»Wie heißen Sie?« fragte der Feuerwehrmann der Leitstelle.
Natalja schwieg für einen Augenblick, dann meinte sie: »Kommen Sie schnell!«
»Gibt es Verletzte? Sind Personen in den Räumlichkeiten?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher, dass niemand mehr drinnen ist?«
»Ja, da bin ich ganz sicher. Beeilen Sie sich!«
»Bleiben Sie ganz ruhig. Die Feuerwehr ist schon unterwegs. Ich müsste noch ihren Namen –«
»Brandstiftung!« unterbrach ihn Natalja schrill. »Es war Brandstiftung. Ich habe einen Mann gesehen mit einem gelben Kanister und einer Brechstange. Ich bin mir sicher, dass es der Waldbauer Kühnle war?«
»Kühnle? Brandstiftung? Wie ist Ihr Name, bitte?«
Natalja antwortete nichts. Stattdessen legte sie auf. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt, den Notruf abgesetzt. Mehr Zeit konnte sie nicht opfern. Sie musste Erik finden und die Feuerwehr würde schon richtig handeln. Zumindest hoffte sie das.
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