Blut und rote Seide
anderes bleiben.«
Das war mehr als nur eine improvisierte Ausrede. Er hatte schon geraume Zeit mit dem Gedanken gespielt. Genaugenommen war er zwar noch nicht eingeschrieben, hatte sich aber bereits an der Universität informiert.
»Sie machen wohl Witze, Genosse Oberinspektor Chen. Und was wird aus Ihrer Ermittlungsarbeit? Klassische chinesische Literatur. Das ist doch für Ihren Beruf nicht unbedingt erforderlich. Wollen Sie etwa eine neue Laufbahn einschlagen?«
»Literatur war mein Hauptfach – englische Literatur. Wer in der heutigen Gesellschaft erfolgreiche Polizeiarbeit leisten will, sollte umfassend gebildet sein. Das Magisterprogramm schließt auch Kurse in Psychologie und Soziologie ein.«
»Nun, es ist zweifellos wünschenswert, daß man seinen Horizont erweitert, aber ich fürchte, dazu bleibt jemandem in Ihrer Position keine Zeit.«
»Ich habe eine Sonderregelung mit der Universität getroffen«, erwiderte Chen. »Nur wenige Wochen intensives Studium, danach muß ich lediglich schriftliche Arbeiten einreichen. Das weitere Curriculum läßt sich mit meinem Arbeitspensum vereinbaren.« Das entsprach nur zum Teil der Wahrheit. Die Broschüre, die er vom Lehrstuhl erhalten hatte, sah zwar eine intensive Studienphase vor, diese mußte aber nicht unbedingt gleich am Anfang absolviert werden.
»Ich hatte gehofft, Sie überreden zu können. Ein führender Genosse in der Stadtregierung hat mich an Sie verwiesen.«
»Ich werde ein Auge auf den Fall haben, soweit mir das möglich ist«, versprach Chen, damit Zhong sein Gesicht wahren konnte. Er wollte lieber nicht wissen, wer der »führende Genosse« in der Stadtregierung war.
»Klingt gut. Ich werde Ihnen die Akten zustellen lassen«, entgegnete Zhong rasch und nahm Chens höfliche Bemerkung als Zusage.
Chen bedauerte, sich nicht zu einem klaren Nein durchgerungen zu haben.
Nach dem Gespräch mit Zhong war ihm klar, daß er sich in den Fall um das Projekt Block Neun West würde einarbeiten müssen. Er tätigte einige Anrufe, und sein Gefühl wurde bestätigt, daß er besser die Finger von dieser Sache lassen sollte.
Der Bauunternehmer Peng Liangxin hatte mit einer Imbißbude angefangen, sich jedoch mit großem Geschick rasch ein Netzwerk aufgebaut. Bald wußte er genau, wann er rote Geldumschläge in wessen Hände drücken mußte. Im Gegenzug gab die Partei ihm die Chance, innerhalb von nur vier, fünf Jahren zum vielfachen Millionär zu werden. Den Baugrund für Block Neun West hatte er sich mit Bestechungen und einem Bebauungsplan erschlichen, der den Bewohnern eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen versprach. Allein aufgrund der staatlichen Überschreibung hatte er sich dann die nötigen Bankkredite verschafft, ohne für das Projekt einen einzigen Yuan aus eigener Tasche zu investieren. Die Bewohner vertrieb er mit brutalen Mitteln, unzureichend oder gar nicht entschädigt, aus ihren Häusern. Die wenigen Familien, die Widerstand leisteten, wurden als »Nagel-Familien« diffamiert, und er ließ sie, dem Bild entsprechend, gewaltsam aus ihren Wohnungen entfernen, wobei er sich der Hilfe von Triadenschlägern bediente. Einige der Bewohner waren bei dieser sogenannten Abrißkampagne übel zugerichtet worden. Doch damit nicht genug; er ließ die Leute auch nicht, wie im Projektentwurf vorgesehen, später in die neuen Gebäude einziehen, sondern verkaufte die Apartments zu horrenden Preisen an Käufer aus Taiwan und Hongkong. Als die Leute protestierten, versicherte er sich erneut der Hilfe der Triaden, wie auch der zuständigen Regierungsbeamten, woraufhin einige der ehemaligen Bewohner im Gefängnis landeten, und zwar mit der Begründung, sie hätten sich dem Stadtentwicklungsplan widersetzt. Als sich aber immer mehr Leute dem Protest anschlossen, sah sich die Stadtregierung zur Intervention gezwungen.
In den Akten, die nun Blatt für Blatt aus dem Faxgerät kamen, hieß es, Peng sei vor allem wegen seines Spitznamens in Schwierigkeiten geraten. Es gab viele Reiche in der Stadt, manche zweifellos noch vermögender als er, doch diese hatten sich bedeckt gehalten. Sein ungeheurer Erfolg war ihm zu Kopf gestiegen; er genoß es, Shanghais größter Geldsack genannt zu werden. Doch als sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnete, wurde Unmut über die allseits verbreitete Korruption laut, wobei Peng als einer der Hemmungslosesten galt. Schließlich wußte schon der Volksmund: Der Vogel, der den Hals reckt, wird
Weitere Kostenlose Bücher