Blut und rote Seide
verstand nicht, warum Chen dieses Literaturstudium mit solchem Nachdruck betrieb. Diese Entscheidung hatte im Präsidium zu vielerlei Spekulationen Anlaß gegeben. Liao Guochang, der Leiter der Mordkommission, meinte, Chen wolle sich bedeckt halten, nachdem er kürzlich in höheren Kreisen unangenehm aufgefallen war; seine Literatenpose diene dazu, sich eine Zeitlang aus dem Rampenlicht zurückzuziehen. Der Kleine Zhou dagegen mutmaßte, daß es Chen um einen Magister oder Doktor zu tun sei, denn ein akademischer Titel konnte in der neuen Beförderungspolitik der Partei einen gewaltigen Karrieresprung bedeuten. Und Kriminalrat Zhang, der sich bereits teilweise im Vorruhestand befand, behauptete gar, Chen plane einen Studienaufenthalt im Ausland, um bei seiner hongyan zhiji , einer ihm zugetanen Schönen, zu sein – in diesem Fall eine Kollegin bei den US-Marshalls. Doch wie die meisten Gerüchte um Chen ließen auch diese sich weder beweisen noch widerlegen.
Yu war sich diesbezüglich nicht sicher, denn es gab noch eine weitere Vermutung, die nicht auszuschließen war und in eine völlig andere Richtung wies: Chen hatte ihn zu einem Wohnungsbauprojekt befragt, ohne dafür einen Grund zu nennen. Das war ungewöhnlich für das Verhältnis zwischen dem Oberinspektor und seinem Assistenten.
Doch an diesem Morgen blieb Yu keine Zeit für weitere Spekulationen. Parteisekretär Li hatte ihn in Inspektor Liaos Büro zitiert.
Liao war ein stämmiger Mann Anfang Vierzig, dem seine Hakennase und die runden Augen ein eulenhaftes Aussehen verliehen. Er runzelte die Stirn, als Yu eintrat.
Wurde im Präsidium ein Fall der Sonderkommission zugeteilt, so war er von besonderer politischer Brisanz. Liaos beleidigtes Gesicht ließ darauf schließen, daß der Mordkommission wieder einmal ein Fall entzogen worden war.
»Haben Sie schon vom qipao -Mord gehört, Genosse Hauptwachtmeister Yu?«
»Ja«, erwiderte Yu, »ein aufsehenerregender Fall.«
Vor einer Woche war die Leiche eines Mädchens, bekleidet mit einem roten qipao , in einer Blumenrabatte an der Huaihai Xilu gefunden worden. Wegen der Nähe zu einigen exklusiven Boutiquen war ausführlich über den Fall berichtet worden, und man hatte ihm den Spitznamen »Roter- qipao -Mord« gegeben. Die Nachricht hatte wiederholt zu Verkehrsstaus in dieser Gegend geführt; zahlreiche Neugierige kamen zu einem Schaufensterbummel, um zugleich den neuesten Klatsch aufzuschnappen, daneben natürlich viele informationshungrige Fotografen und Journalisten.
Die Zeitungen übertrafen einander mit wilden Theorien. Der Mörder hatte seine Leiche bestimmt nicht ohne Grund an einen solchen Ort gelegt. Ein Reporter wollte deshalb den Täter im Konservatorium vermuten, das gegenüber der Verkehrsinsel auf der anderen Straßenseite lag. Ein anderer vermutete einen politischen Kommentar zum Wertewandel im sozialistischen China, denn der qipao , einst als Inbegriff kapitalistischer Dekadenz verteufelt, war wieder in Mode gekommen. Eine Boulevard-Zeitung spekulierte sogar, der Mord könne von einem bedeutenden Modekonzern inszeniert worden sein. Ironischerweise hatte die breite Berichterstattung über den Mord zur Folge, daß in den Schaufenstern nun vermehrt Kleider dieses Stils auftauchten.
So manches an dem Fall schien Yu rätselhaft. In einer ersten gerichtsmedizinischen Untersuchung waren Druckstellen an Armen und Beinen der Leiche festgestellt worden, die auf eine Vergewaltigung vor dem Tod durch Ersticken hindeuteten. Dennoch wies die Tote keine Samenspuren auf und war offenbar gewaschen worden. Unter dem Kleid war sie nackt, bei einer solchen Garderobe eher unüblich. Noch ungewöhnlicher war der Fundort der Leiche direkt an einer vielbefahrenen Straße.
Ersten Annahmen zufolge hatte der Mörder der Leiche das Kleid nur für den Transport angezogen und in der Eile Slip und BH vergessen oder diese nicht für nötig erachtet. Das Kleid konnte das Opfer bereits bei der fatalen Begegnung mit dem Mörder getragen haben. Auch der Fundort könnte möglicherweise bedeutungslos sein: wenn der Verbrecher so unverfroren war, sich seines Opfers bei erstbester Gelegenheit zu entledigen.
Yu hielt nichts von dieser Beliebigkeitsthese, aber schließlich war es kein Fall der Sonderkommission; er war klug genug, nicht in anderer Leute Küche zu kochen.
»Ziemlich aufsehenerregend«, wiederholte Yu, der sich zu einer Äußerung gedrängt sah, nachdem Li und Liao beharrlich schwiegen. »Allein der
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