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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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erwiderte Bian. »Der Dekan hat mit mir über Sie gesprochen. Angesichts Ihrer Arbeitsbelastung haben wir beschlossen, Ihnen die Anwesenheit im Hörsaal zu ersparen, Sie müssen nur die Seminararbeiten pünktlich einreichen.«
    »Ich weiß das zu schätzen. Selbstverständlich werde ich pünktlich abliefern wie jeder andere Student auch.«
    Eine junge Frau Anfang Dreißig kam leichtfüßig ins Wohnzimmer. Sie trug einen schwarzen qipao mit hochhackigen Sandalen und nahm Chen den Schinken ab, den sie auf den Couchtisch legte.
    »Das ist Fengfeng, meine talentierte Tochter. Sie ist Geschäftsführerin eines amerikanisch-chinesischen Joint Venture.«
    »Eine höchst pietätlose Tochter, wie man sieht«, sagte sie. »Statt chinesischer Literatur habe ich Betriebswirtschaft studiert. Vielen Dank, daß Sie sich meinen Vater zum Lehrer gewählt haben. Es schmeichelt seinem Ego, daß eine Berühmtheit wie Sie bei ihm studiert.«
    »Ganz im Gegenteil, ich fühle mich geehrt.«
    »Warum entscheidet sich ein so erfolgreicher Ermittler für dieses Studienprogramm?« wollte sie wissen.
    »Mit Literatur kann man nichts ausrichten«, mischte der alte Herr sich bescheiden lächelnd ein. »Sie hat diese Wohnung gekauft, die meine Mittel bei weitem überstiegen hätte. Und hier leben wir nun – ein Land, zwei Systeme.«
    Ein Land, zwei Systeme – ein politischer Slogan, den Deng Xiaoping für die Koexistenz des sozialistischen China mit dem kapitalistischen Hongkong nach der Übernahme 1997 geprägt hatte. Hier war es auf eine Familie gemünzt, die ihr Geld in zwei unterschiedlichen Systemen verdiente. Chen war klar, daß viele Leute seine Entscheidung mißbilligen würden, wollte dem aber keine zu große Bedeutung beimessen.
    »Ein Literaturstudium gilt für mich als eine dieser verpaßten Gelegenheiten, an die man mit Bedauern zurückdenkt. Aber manchmal bekommt man eine zweite Chance«, erwiderte er. »Außerdem schmeichelt es dem Ego, sich einer neuen Laufbahn zuzuwenden.«
    »Ich muß Sie um einen Gefallen bitten, Oberinspektor«, sagte sie. »Vater ist zuckerkrank und hat einen hohen Blutdruck. Er geht nicht mehr jeden Tag in die Uni. Könnten Sie ihn vielleicht hier aufsuchen?«
    »Aber natürlich, wenn das angenehmer für ihn ist.«
    »Sie kennen sicher den Ausspruch von Gao Shi«, warf Bian ein. » Die nutzlosesten sind die Gelehrten. In meinem Alter ist man zu nichts anderem nütze, als zu Hause Insekten zu schnitzen .«
    »Literatur wird tausend Herbste überdauern«, konterte Chen mit der Zeile eines anderen berühmten Dichters.
    »Nun, Ihre Leidenschaft für die Literatur ist ein guter Ausgangspunkt. Wie sagt doch der Volksmund: Menschen mit derselben Krankheit bedauern einander. Wie ich höre, sind Sie ein romantischer Dichter. Da haben Sie mit einer anderen Variante der ›Durstkrankheit‹ zu kämpfen.«
    Xiaoke zhi ji – die Durstkrankheit. Chen hatte den Begriff schon gehört; er bezog sich auf Diabetes, der dem Patienten Durstgefühle verursacht. Bian hatte damit auf subtile Weise auf seinen Durst nach Literatur angespielt. Aber was meinte er mit der Bemerkung, daß Chen ein romantischer Dichter sei?
    Als Chen wieder in den draußen wartenden Dienstwagen stieg, erwischte er den Kleinen Zhou dabei, wie er in einer Hongkonger Ausgabe des Playboy nackte Models betrachtete. Da fiel ihm ein, daß der Begriff »Durstkrankheit« im alten China auch als Bild für die hoffnungslose Leidenschaft eines jungen Mannes zu einem Mädchen gebraucht worden war.
    Doch dann kamen ihm Zweifel. Vielleicht hatte er den Ausdruck auch bloß irgendwo gelesen und mit eigenen Assoziationen aufgeladen. Kaum in seinem Dienstwagen, dachte er schon wieder wie ein Polizist, nach Erklärungen für Bians Äußerung suchend. Er mußte über sich selbst den Kopf schütteln.
    Doch die Aussicht auf das Literaturprogramm war eine Abwechslung und stimmte ihn heiter.

2
    HAUPTWACHTMEISTER YU GUANGMING vom Shanghaier Polizeipräsidium saß nachdenklich in seinem Büro – nein, er saß nicht in seinem Büro, soweit war er noch nicht. Als stellvertretender Einsatzleiter der Sonderkommission hatte er während Chens Abwesenheit dessen Büro übernommen.
    Man nahm ihn nicht ernst, obwohl er die Sonderkommission bereits mehrfach kompetent geleitet hatte, immer dann, wenn Chen für mehrere Wochen mit politischen Sitzungen oder gutbezahlten Übersetzungsaufträgen beschäftigt gewesen war. Dennoch stand er auch weiterhin im Schatten des Oberinspektors.
    Yu

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